Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Unter solchen Gesprächen war ihnen die Nacht fast
ganz dahingegangen und sie schliefen nur noch weniges,
bis die anbrechende Morgenröthe sie weckte.


Telemach kommt heim.

An demselben Morgen landete Telemach mit seinen
Begleitern an Ithaka's Gestade. Dem Rathe Minerva's
gehorchend, hieß er diese ohne Verzug nach der Stadt
fortrudern, versprach ihnen am andern Morgen durch
ein fröhliches Mahl den Dank für die Reise zu be¬
zahlen, und schickte sich zum Wege nach den Hirten an.
"Aber wo soll ich hingehen, mein Sohn," fragte den
Scheidenden Theoklymenus, "wer in der Stadt wird
mich aufnehmen? soll ich etwa geradenweges auf den
Palast deiner Mutter zugehen?" "Hätte unser Haus,"
antwortete Telemach, "ein anderes Ansehen, als es gegen¬
wärtig hat, so würde ich dir unbedenklich dazu rathen,
so aber würdest du von den Freiern doch nicht vorge¬
lassen, und meine Mutter webt im einsamsten Gemache
des Hauses an einem Gewande. Da wäre es noch
klüger, dich in das Haus des Eurymachus zu begeben,
der ein Sohn des in Ithaka hoch angesehenen Mannes,
des Polybus, und der erste unter denen ist, die sich um
meine Mutter bewerben!" Während er noch redete, flog
ein Habicht mit einer Taube vorüber, deren Gefieder er
berupfte. Da führte der Seher den Jüngling bei der
Hand auf die Seite und sagte ihm ins Ohr: "Sohn,

Unter ſolchen Geſprächen war ihnen die Nacht faſt
ganz dahingegangen und ſie ſchliefen nur noch weniges,
bis die anbrechende Morgenröthe ſie weckte.


Telemach kommt heim.

An demſelben Morgen landete Telemach mit ſeinen
Begleitern an Ithaka's Geſtade. Dem Rathe Minerva's
gehorchend, hieß er dieſe ohne Verzug nach der Stadt
fortrudern, verſprach ihnen am andern Morgen durch
ein fröhliches Mahl den Dank für die Reiſe zu be¬
zahlen, und ſchickte ſich zum Wege nach den Hirten an.
„Aber wo ſoll ich hingehen, mein Sohn,“ fragte den
Scheidenden Theoklymenus, „wer in der Stadt wird
mich aufnehmen? ſoll ich etwa geradenweges auf den
Palaſt deiner Mutter zugehen?“ „Hätte unſer Haus,“
antwortete Telemach, „ein anderes Anſehen, als es gegen¬
wärtig hat, ſo würde ich dir unbedenklich dazu rathen,
ſo aber würdeſt du von den Freiern doch nicht vorge¬
laſſen, und meine Mutter webt im einſamſten Gemache
des Hauſes an einem Gewande. Da wäre es noch
klüger, dich in das Haus des Eurymachus zu begeben,
der ein Sohn des in Ithaka hoch angeſehenen Mannes,
des Polybus, und der erſte unter denen iſt, die ſich um
meine Mutter bewerben!“ Während er noch redete, flog
ein Habicht mit einer Taube vorüber, deren Gefieder er
berupfte. Da führte der Seher den Jüngling bei der
Hand auf die Seite und ſagte ihm ins Ohr: „Sohn,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0223" n="201"/>
            <p>Unter &#x017F;olchen Ge&#x017F;prächen war ihnen die Nacht fa&#x017F;t<lb/>
ganz dahingegangen und &#x017F;ie &#x017F;chliefen nur noch weniges,<lb/>
bis die anbrechende Morgenröthe &#x017F;ie weckte.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Telemach kommt heim.</hi><lb/>
            </head>
            <p>An dem&#x017F;elben Morgen landete Telemach mit &#x017F;einen<lb/>
Begleitern an Ithaka's Ge&#x017F;tade. Dem Rathe Minerva's<lb/>
gehorchend, hieß er die&#x017F;e ohne Verzug nach der Stadt<lb/>
fortrudern, ver&#x017F;prach ihnen am andern Morgen durch<lb/>
ein fröhliches Mahl den Dank für die Rei&#x017F;e zu be¬<lb/>
zahlen, und &#x017F;chickte &#x017F;ich zum Wege nach den Hirten an.<lb/>
&#x201E;Aber wo &#x017F;oll ich hingehen, mein Sohn,&#x201C; fragte den<lb/>
Scheidenden Theoklymenus, &#x201E;wer in der Stadt wird<lb/>
mich aufnehmen? &#x017F;oll ich etwa geradenweges auf den<lb/>
Pala&#x017F;t deiner Mutter zugehen?&#x201C; &#x201E;Hätte un&#x017F;er Haus,&#x201C;<lb/>
antwortete Telemach, &#x201E;ein anderes An&#x017F;ehen, als es gegen¬<lb/>
wärtig hat, &#x017F;o würde ich dir unbedenklich dazu rathen,<lb/>
&#x017F;o aber würde&#x017F;t du von den Freiern doch nicht vorge¬<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, und meine Mutter webt im ein&#x017F;am&#x017F;ten Gemache<lb/>
des Hau&#x017F;es an einem Gewande. Da wäre es noch<lb/>
klüger, dich in das Haus des Eurymachus zu begeben,<lb/>
der ein Sohn des in Ithaka hoch ange&#x017F;ehenen Mannes,<lb/>
des Polybus, und der er&#x017F;te unter denen i&#x017F;t, die &#x017F;ich um<lb/>
meine Mutter bewerben!&#x201C; Während er noch redete, flog<lb/>
ein Habicht mit einer Taube vorüber, deren Gefieder er<lb/>
berupfte. Da führte der Seher den Jüngling bei der<lb/>
Hand auf die Seite und &#x017F;agte ihm ins Ohr: &#x201E;Sohn,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[201/0223] Unter ſolchen Geſprächen war ihnen die Nacht faſt ganz dahingegangen und ſie ſchliefen nur noch weniges, bis die anbrechende Morgenröthe ſie weckte. Telemach kommt heim. An demſelben Morgen landete Telemach mit ſeinen Begleitern an Ithaka's Geſtade. Dem Rathe Minerva's gehorchend, hieß er dieſe ohne Verzug nach der Stadt fortrudern, verſprach ihnen am andern Morgen durch ein fröhliches Mahl den Dank für die Reiſe zu be¬ zahlen, und ſchickte ſich zum Wege nach den Hirten an. „Aber wo ſoll ich hingehen, mein Sohn,“ fragte den Scheidenden Theoklymenus, „wer in der Stadt wird mich aufnehmen? ſoll ich etwa geradenweges auf den Palaſt deiner Mutter zugehen?“ „Hätte unſer Haus,“ antwortete Telemach, „ein anderes Anſehen, als es gegen¬ wärtig hat, ſo würde ich dir unbedenklich dazu rathen, ſo aber würdeſt du von den Freiern doch nicht vorge¬ laſſen, und meine Mutter webt im einſamſten Gemache des Hauſes an einem Gewande. Da wäre es noch klüger, dich in das Haus des Eurymachus zu begeben, der ein Sohn des in Ithaka hoch angeſehenen Mannes, des Polybus, und der erſte unter denen iſt, die ſich um meine Mutter bewerben!“ Während er noch redete, flog ein Habicht mit einer Taube vorüber, deren Gefieder er berupfte. Da führte der Seher den Jüngling bei der Hand auf die Seite und ſagte ihm ins Ohr: „Sohn,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/223
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/223>, abgerufen am 21.11.2024.