Der einsichtsvollste Mann im griechischen Heere war Palamedes, thätig, weise, gerecht und standhaft; von zar¬ ter Gestalt, des Gesangs und Leierspiels kundig. Seine Beredsamkeit hatte den Atriden die meisten Fürsten Grie¬ chenlands für den Feldzug gegen Troja gestimmt, seine Klugheit selbst den schlauen Sohn des Laertes überlistet. Dadurch hatte er sich aber auch einen unversöhnlichen Feind in dem Heere der Danaer erworben, der Tag und Nacht auf Rache sann und nur um so finsterer darüber brütete, je mehr das Ansehen des verständigen Euböers unter den Fürsten zunahm. Nun wurde den Griechen durch ein Orakel Apollo's bekannt, daß sie diesem Gott als Apollo Sminthius -- unter diesem Namen wurde er in der Landschaft Troas verehrt -- eine Hekatombe an der Stelle opfern sollten, wo seine Bildsäule und sein Tempel stand, und Palamedes war von dem Gotte aus¬ erwählt worden, die stattlichen Opferthiere nach der heiligen Stätte zu führen. Dort wartete ihrer Chryses, der Priester des Gottes, der das feierliche Opfer vollbrachte. Die Verehrung des Gottes in dieser Landschaft hatte einen seltsamen Ursprung. Als die alten Teukrer, aus Kreta herüber mit ihrem Könige Teucer kommend, an dieser Küste Kleinasiens gelandet hatten, gab ihnen das Orakel den Befehl da zu bleiben, wo sie ihre Feinde aus der Erde würden hervorkriechen sehen. Als sie nun in Hama¬ xitus, einer Stadt dieser Landschaft, angekommen waren, benagten die Mäuse, aus der Erde hervorschlüpfend, in
Palamedes und ſein Tod.
Der einſichtsvollſte Mann im griechiſchen Heere war Palamedes, thätig, weiſe, gerecht und ſtandhaft; von zar¬ ter Geſtalt, des Geſangs und Leierſpiels kundig. Seine Beredſamkeit hatte den Atriden die meiſten Fürſten Grie¬ chenlands für den Feldzug gegen Troja geſtimmt, ſeine Klugheit ſelbſt den ſchlauen Sohn des Laertes überliſtet. Dadurch hatte er ſich aber auch einen unverſöhnlichen Feind in dem Heere der Danaer erworben, der Tag und Nacht auf Rache ſann und nur um ſo finſterer darüber brütete, je mehr das Anſehen des verſtändigen Euböers unter den Fürſten zunahm. Nun wurde den Griechen durch ein Orakel Apollo's bekannt, daß ſie dieſem Gott als Apollo Sminthius — unter dieſem Namen wurde er in der Landſchaft Troas verehrt — eine Hekatombe an der Stelle opfern ſollten, wo ſeine Bildſäule und ſein Tempel ſtand, und Palamedes war von dem Gotte aus¬ erwählt worden, die ſtattlichen Opferthiere nach der heiligen Stätte zu führen. Dort wartete ihrer Chryſes, der Prieſter des Gottes, der das feierliche Opfer vollbrachte. Die Verehrung des Gottes in dieſer Landſchaft hatte einen ſeltſamen Urſprung. Als die alten Teukrer, aus Kreta herüber mit ihrem Könige Teucer kommend, an dieſer Küſte Kleinaſiens gelandet hatten, gab ihnen das Orakel den Befehl da zu bleiben, wo ſie ihre Feinde aus der Erde würden hervorkriechen ſehen. Als ſie nun in Hama¬ xitus, einer Stadt dieſer Landſchaft, angekommen waren, benagten die Mäuſe, aus der Erde hervorſchlüpfend, in
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Palamedes und ſein Tod.
Der einſichtsvollſte Mann im griechiſchen Heere war
Palamedes, thätig, weiſe, gerecht und ſtandhaft; von zar¬
ter Geſtalt, des Geſangs und Leierſpiels kundig. Seine
Beredſamkeit hatte den Atriden die meiſten Fürſten Grie¬
chenlands für den Feldzug gegen Troja geſtimmt, ſeine
Klugheit ſelbſt den ſchlauen Sohn des Laertes überliſtet.
Dadurch hatte er ſich aber auch einen unverſöhnlichen
Feind in dem Heere der Danaer erworben, der Tag
und Nacht auf Rache ſann und nur um ſo finſterer darüber
brütete, je mehr das Anſehen des verſtändigen Euböers
unter den Fürſten zunahm. Nun wurde den Griechen
durch ein Orakel Apollo's bekannt, daß ſie dieſem Gott
als Apollo Sminthius — unter dieſem Namen wurde er
in der Landſchaft Troas verehrt — eine Hekatombe an
der Stelle opfern ſollten, wo ſeine Bildſäule und ſein
Tempel ſtand, und Palamedes war von dem Gotte aus¬
erwählt worden, die ſtattlichen Opferthiere nach der heiligen
Stätte zu führen. Dort wartete ihrer Chryſes, der Prieſter
des Gottes, der das feierliche Opfer vollbrachte. Die
Verehrung des Gottes in dieſer Landſchaft hatte einen
ſeltſamen Urſprung. Als die alten Teukrer, aus Kreta
herüber mit ihrem Könige Teucer kommend, an dieſer
Küſte Kleinaſiens gelandet hatten, gab ihnen das Orakel
den Befehl da zu bleiben, wo ſie ihre Feinde aus der
Erde würden hervorkriechen ſehen. Als ſie nun in Hama¬
xitus, einer Stadt dieſer Landſchaft, angekommen waren,
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/93>, abgerufen am 17.11.2024.
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