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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Deukalion und Pyrrha.

Als das eherne Menschengeschlecht auf Erden hauste
und Jupiter, dem Weltbeherrscher, schlimme Sage von
seinen Freveln zu Ohren gekommen, beschloß er selbst in
menschlicher Bildung die Erde zu durchstreifen. Aber
allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die
Wahrheit. Eines Abends in später Dämmerung trat er
unter das ungastliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon,
welcher durch Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch
einige Wunderzeichen merken, daß ein Gott gekommen
sey, und die Menge hatte sich auf die Kniee geworfen.
Lykaon jedoch spottete über diese frommen Gebete. "Laßt
uns sehen, sprach er, ob es ein Sterblicher oder ein
Gott sey!" Damit beschloß er im Herzen den Gast um
Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm lastete, mit
ungeahntem Tode zu verderben. Noch vorher aber schlach¬
tete er einen armen Geißel, den ihm das Volk der Mo¬
losser gesandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder
in siedendem Wasser, oder briet sie am Feuer und setzte
sie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tisch. Ju¬
piter, der alles durchschaut hatte, fuhr vom Mahle em¬
por und sandte die rächende Flamme über die Burg des
Gottlosen. Bestürzt entfloh der König ins freie Feld.
Der erste Wehlaut, den er ausstieß, war ein Geheul,
sein Gewand wurde zu Zotteln, seine Arme zu Beinen;
er war in einen blutdürstigen Wolf verwandelt.

Jupiter kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den
Göttern Rath, und gedachte das ruchlose Menschenge¬
schlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder

Deukalion und Pyrrha.

Als das eherne Menſchengeſchlecht auf Erden hauſte
und Jupiter, dem Weltbeherrſcher, ſchlimme Sage von
ſeinen Freveln zu Ohren gekommen, beſchloß er ſelbſt in
menſchlicher Bildung die Erde zu durchſtreifen. Aber
allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die
Wahrheit. Eines Abends in ſpäter Dämmerung trat er
unter das ungaſtliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon,
welcher durch Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch
einige Wunderzeichen merken, daß ein Gott gekommen
ſey, und die Menge hatte ſich auf die Kniee geworfen.
Lykaon jedoch ſpottete über dieſe frommen Gebete. „Laßt
uns ſehen, ſprach er, ob es ein Sterblicher oder ein
Gott ſey!“ Damit beſchloß er im Herzen den Gaſt um
Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm laſtete, mit
ungeahntem Tode zu verderben. Noch vorher aber ſchlach¬
tete er einen armen Geißel, den ihm das Volk der Mo¬
loſſer geſandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder
in ſiedendem Waſſer, oder briet ſie am Feuer und ſetzte
ſie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tiſch. Ju¬
piter, der alles durchſchaut hatte, fuhr vom Mahle em¬
por und ſandte die rächende Flamme über die Burg des
Gottloſen. Beſtürzt entfloh der König ins freie Feld.
Der erſte Wehlaut, den er ausſtieß, war ein Geheul,
ſein Gewand wurde zu Zotteln, ſeine Arme zu Beinen;
er war in einen blutdürſtigen Wolf verwandelt.

Jupiter kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den
Göttern Rath, und gedachte das ruchloſe Menſchenge¬
ſchlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder

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[15/0041] Deukalion und Pyrrha. Als das eherne Menſchengeſchlecht auf Erden hauſte und Jupiter, dem Weltbeherrſcher, ſchlimme Sage von ſeinen Freveln zu Ohren gekommen, beſchloß er ſelbſt in menſchlicher Bildung die Erde zu durchſtreifen. Aber allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die Wahrheit. Eines Abends in ſpäter Dämmerung trat er unter das ungaſtliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon, welcher durch Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch einige Wunderzeichen merken, daß ein Gott gekommen ſey, und die Menge hatte ſich auf die Kniee geworfen. Lykaon jedoch ſpottete über dieſe frommen Gebete. „Laßt uns ſehen, ſprach er, ob es ein Sterblicher oder ein Gott ſey!“ Damit beſchloß er im Herzen den Gaſt um Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm laſtete, mit ungeahntem Tode zu verderben. Noch vorher aber ſchlach¬ tete er einen armen Geißel, den ihm das Volk der Mo¬ loſſer geſandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder in ſiedendem Waſſer, oder briet ſie am Feuer und ſetzte ſie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tiſch. Ju¬ piter, der alles durchſchaut hatte, fuhr vom Mahle em¬ por und ſandte die rächende Flamme über die Burg des Gottloſen. Beſtürzt entfloh der König ins freie Feld. Der erſte Wehlaut, den er ausſtieß, war ein Geheul, ſein Gewand wurde zu Zotteln, ſeine Arme zu Beinen; er war in einen blutdürſtigen Wolf verwandelt. Jupiter kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den Göttern Rath, und gedachte das ruchloſe Menſchenge¬ ſchlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/41>, abgerufen am 17.11.2024.