Adrastus, der Sohn des Talaus, König von Argos, hatte fünf Kinder, darunter zwei schöne Töchter, Argia und Deipyle. Ueber diese war ihm ein seltsamer Orakel¬ spruch geworden: er werde dieselben dereinst einem Löwen und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens besann sich der König, welchen Sinn dieses dunkle Wort haben könne, und als die Mägdlein herangewachsen waren, gedachte er sie so zu vermählen, daß die ängstliche Wahrsagung auf keine Weise erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort sollte nicht zu Schanden werden. Von zweierlei Seiten kamen zwei Flüchtlinge durch Argos Thore. Aus Thebe war Polynices von seinem Bruder Eteokles verjagt wor¬ den ; Tydeus, des Oeneus Sohn, war aus Kalydon geflohen, wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht ab¬ sichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen sich vor dem Königspallaste von Argos. In der Dunkelheit der Nacht hielten sie sich für Feinde und geriethen mit ein¬ ander ins Handgemenge. Adrastus hörte das Waffenge¬ tümmel unter seiner Burg, stieg bei Fackelschein von ihr herab und trennte die Streitenden. Als nun zu seinen beiden Seiten einer der Heldensöhne stand, die noch eben mit einander gekämpft hatten, so erstaunte der König wie vor einem plötzlichen Gesichte, denn von dem Schilde des
Die Sieben gegen Thebe.
Polynices und Tydeus bei Adraſt.
Adraſtus, der Sohn des Talaus, König von Argos, hatte fünf Kinder, darunter zwei ſchöne Töchter, Argia und Deipyle. Ueber dieſe war ihm ein ſeltſamer Orakel¬ ſpruch geworden: er werde dieſelben dereinſt einem Löwen und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens beſann ſich der König, welchen Sinn dieſes dunkle Wort haben könne, und als die Mägdlein herangewachſen waren, gedachte er ſie ſo zu vermählen, daß die ängſtliche Wahrſagung auf keine Weiſe erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort ſollte nicht zu Schanden werden. Von zweierlei Seiten kamen zwei Flüchtlinge durch Argos Thore. Aus Thebe war Polynices von ſeinem Bruder Eteokles verjagt wor¬ den ; Tydeus, des Oeneus Sohn, war aus Kalydon geflohen, wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht ab¬ ſichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen ſich vor dem Königspallaſte von Argos. In der Dunkelheit der Nacht hielten ſie ſich für Feinde und geriethen mit ein¬ ander ins Handgemenge. Adraſtus hörte das Waffenge¬ tümmel unter ſeiner Burg, ſtieg bei Fackelſchein von ihr herab und trennte die Streitenden. Als nun zu ſeinen beiden Seiten einer der Heldenſöhne ſtand, die noch eben mit einander gekämpft hatten, ſo erſtaunte der König wie vor einem plötzlichen Geſichte, denn von dem Schilde des
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0371"n="[345]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Die Sieben gegen Thebe.</hi><lb/></head><divn="3"><head><hirendition="#fr #g">Polynices und Tydeus bei Adraſt.</hi><lb/></head><p>Adraſtus, der Sohn des Talaus, König von Argos,<lb/>
hatte fünf Kinder, darunter zwei ſchöne Töchter, Argia<lb/>
und Deipyle. Ueber dieſe war ihm ein ſeltſamer Orakel¬<lb/>ſpruch geworden: er werde dieſelben dereinſt einem Löwen<lb/>
und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens beſann<lb/>ſich der König, welchen Sinn dieſes dunkle Wort haben könne,<lb/>
und als die Mägdlein herangewachſen waren, gedachte<lb/>
er ſie ſo zu vermählen, daß die ängſtliche Wahrſagung auf<lb/>
keine Weiſe erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort<lb/>ſollte nicht zu Schanden werden. Von zweierlei Seiten<lb/>
kamen zwei Flüchtlinge durch Argos Thore. Aus Thebe<lb/>
war Polynices von ſeinem Bruder Eteokles verjagt wor¬<lb/>
den ; Tydeus, des Oeneus Sohn, war aus Kalydon geflohen,<lb/>
wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht ab¬<lb/>ſichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen ſich vor<lb/>
dem Königspallaſte von Argos. In der Dunkelheit der<lb/>
Nacht hielten ſie ſich für Feinde und geriethen mit ein¬<lb/>
ander ins Handgemenge. Adraſtus hörte das Waffenge¬<lb/>
tümmel unter ſeiner Burg, ſtieg bei Fackelſchein von ihr<lb/>
herab und trennte die Streitenden. Als nun zu ſeinen<lb/>
beiden Seiten einer der Heldenſöhne ſtand, die noch eben<lb/>
mit einander gekämpft hatten, ſo erſtaunte der König wie<lb/>
vor einem plötzlichen Geſichte, denn von dem Schilde des<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[[345]/0371]
Die Sieben gegen Thebe.
Polynices und Tydeus bei Adraſt.
Adraſtus, der Sohn des Talaus, König von Argos,
hatte fünf Kinder, darunter zwei ſchöne Töchter, Argia
und Deipyle. Ueber dieſe war ihm ein ſeltſamer Orakel¬
ſpruch geworden: er werde dieſelben dereinſt einem Löwen
und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens beſann
ſich der König, welchen Sinn dieſes dunkle Wort haben könne,
und als die Mägdlein herangewachſen waren, gedachte
er ſie ſo zu vermählen, daß die ängſtliche Wahrſagung auf
keine Weiſe erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort
ſollte nicht zu Schanden werden. Von zweierlei Seiten
kamen zwei Flüchtlinge durch Argos Thore. Aus Thebe
war Polynices von ſeinem Bruder Eteokles verjagt wor¬
den ; Tydeus, des Oeneus Sohn, war aus Kalydon geflohen,
wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht ab¬
ſichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen ſich vor
dem Königspallaſte von Argos. In der Dunkelheit der
Nacht hielten ſie ſich für Feinde und geriethen mit ein¬
ander ins Handgemenge. Adraſtus hörte das Waffenge¬
tümmel unter ſeiner Burg, ſtieg bei Fackelſchein von ihr
herab und trennte die Streitenden. Als nun zu ſeinen
beiden Seiten einer der Heldenſöhne ſtand, die noch eben
mit einander gekämpft hatten, ſo erſtaunte der König wie
vor einem plötzlichen Geſichte, denn von dem Schilde des
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. [345]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/371>, abgerufen am 17.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.