Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Symplegaden.

Phineus nahm dankbar und gerührt Abschied von sei¬
nen Rettern, die weiter, und mancherlei neuen Schicksa¬
len entgegen fuhren. Zuerst wurden sie durch vierzig¬
tägige Nordwestwinde aufgehalten, bis Opfer und Gebet
zu allen zwölf Göttern ihnen zu frischer Fahrt verhalf.
Sie waren im besten Seegeln begriffen, als ein lautes
Tosen ihnen von ferne schon ans Ohr schlug. Es war
das Krachen der immer zusammenstoßenden und immer
wieder zurückprallenden Symplegaden, der Wiederhall der
Ufer und das Zischen des zusammengepreßten Meeres.
Tiphys der Steuermann stellte sich wachsam ans Steuer¬
ruder. Euphemus der Held erhub sich im Schiffe und
hielt auf der flachen Rechten eine Taube. Wenn diese,
hatte Phineus ihnen geweissagt, furchtlos zwischen den
Felsen durchflöge, so dürften auch sie kecklich die Durch¬
fahrt wagen. Eben öffneten sich die Felsen: Euphemus
ließ die Taube fliegen; Alle richteten ihre Häupter in
Erwartung empor. Die Taube flog mitten hindurch,
aber schon näherten sich die Felsen wieder, das schäu¬
mende Meer wallte zischend einer Wolke gleich auf; ein
Brausen erfüllte Wasser und Luft; jetzt stießen die Fel¬
sen zusammen und klemmten der Taube die letzten
Schwanzfedern ab, doch war sie glücklich hindurch ge¬
kommen. Mit lauter Stimme ermunterte Tiphys die
Ruderer, dann aber öffneten sich die Felsen wieder und
die in den Zwischenraum strömende Flut zog das Schiff
mit sich hinein. Jetzt hing das Verderben über ihrem
Haupte: eine Thurmhohe Woge wälzte sich ihnen entge¬

Die Symplegaden.

Phineus nahm dankbar und gerührt Abſchied von ſei¬
nen Rettern, die weiter, und mancherlei neuen Schickſa¬
len entgegen fuhren. Zuerſt wurden ſie durch vierzig¬
tägige Nordweſtwinde aufgehalten, bis Opfer und Gebet
zu allen zwölf Göttern ihnen zu friſcher Fahrt verhalf.
Sie waren im beſten Seegeln begriffen, als ein lautes
Toſen ihnen von ferne ſchon ans Ohr ſchlug. Es war
das Krachen der immer zuſammenſtoßenden und immer
wieder zurückprallenden Symplegaden, der Wiederhall der
Ufer und das Ziſchen des zuſammengepreßten Meeres.
Tiphys der Steuermann ſtellte ſich wachſam ans Steuer¬
ruder. Euphemus der Held erhub ſich im Schiffe und
hielt auf der flachen Rechten eine Taube. Wenn dieſe,
hatte Phineus ihnen geweiſſagt, furchtlos zwiſchen den
Felſen durchflöge, ſo dürften auch ſie kecklich die Durch¬
fahrt wagen. Eben öffneten ſich die Felſen: Euphemus
ließ die Taube fliegen; Alle richteten ihre Häupter in
Erwartung empor. Die Taube flog mitten hindurch,
aber ſchon näherten ſich die Felſen wieder, das ſchäu¬
mende Meer wallte ziſchend einer Wolke gleich auf; ein
Brauſen erfüllte Waſſer und Luft; jetzt ſtießen die Fel¬
ſen zuſammen und klemmten der Taube die letzten
Schwanzfedern ab, doch war ſie glücklich hindurch ge¬
kommen. Mit lauter Stimme ermunterte Tiphys die
Ruderer, dann aber öffneten ſich die Felſen wieder und
die in den Zwiſchenraum ſtrömende Flut zog das Schiff
mit ſich hinein. Jetzt hing das Verderben über ihrem
Haupte: eine Thurmhohe Woge wälzte ſich ihnen entge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0138" n="112"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#fr #g">Die Symplegaden.</hi><lb/>
            </head>
            <p>Phineus nahm dankbar und gerührt Ab&#x017F;chied von &#x017F;ei¬<lb/>
nen Rettern, die weiter, und mancherlei neuen Schick&#x017F;<lb/>
len entgegen fuhren. Zuer&#x017F;t wurden &#x017F;ie durch vierzig¬<lb/>
tägige Nordwe&#x017F;twinde aufgehalten, bis Opfer und Gebet<lb/>
zu allen zwölf Göttern ihnen zu fri&#x017F;cher Fahrt verhalf.<lb/>
Sie waren im be&#x017F;ten Seegeln begriffen, als ein lautes<lb/>
To&#x017F;en ihnen von ferne &#x017F;chon ans Ohr &#x017F;chlug. Es war<lb/>
das Krachen der immer zu&#x017F;ammen&#x017F;toßenden und immer<lb/>
wieder zurückprallenden Symplegaden, der Wiederhall der<lb/>
Ufer und das Zi&#x017F;chen des zu&#x017F;ammengepreßten Meeres.<lb/>
Tiphys der Steuermann &#x017F;tellte &#x017F;ich wach&#x017F;am ans Steuer¬<lb/>
ruder. Euphemus der Held erhub &#x017F;ich im Schiffe und<lb/>
hielt auf der flachen Rechten eine Taube. Wenn die&#x017F;e,<lb/>
hatte Phineus ihnen gewei&#x017F;&#x017F;agt, furchtlos zwi&#x017F;chen den<lb/>
Fel&#x017F;en durchflöge, &#x017F;o dürften auch &#x017F;ie kecklich die Durch¬<lb/>
fahrt wagen. Eben öffneten &#x017F;ich die Fel&#x017F;en: Euphemus<lb/>
ließ die Taube fliegen; Alle richteten ihre Häupter in<lb/>
Erwartung empor. Die Taube flog mitten hindurch,<lb/>
aber &#x017F;chon näherten &#x017F;ich die Fel&#x017F;en wieder, das &#x017F;chäu¬<lb/>
mende Meer wallte zi&#x017F;chend einer Wolke gleich auf; ein<lb/>
Brau&#x017F;en erfüllte Wa&#x017F;&#x017F;er und Luft; jetzt &#x017F;tießen die Fel¬<lb/>
&#x017F;en zu&#x017F;ammen und klemmten der Taube die letzten<lb/>
Schwanzfedern ab, doch war &#x017F;ie glücklich hindurch ge¬<lb/>
kommen. Mit lauter Stimme ermunterte Tiphys die<lb/>
Ruderer, dann aber öffneten &#x017F;ich die Fel&#x017F;en wieder und<lb/>
die in den Zwi&#x017F;chenraum &#x017F;trömende Flut zog das Schiff<lb/>
mit &#x017F;ich hinein. Jetzt hing das Verderben über ihrem<lb/>
Haupte: eine Thurmhohe Woge wälzte &#x017F;ich ihnen entge¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0138] Die Symplegaden. Phineus nahm dankbar und gerührt Abſchied von ſei¬ nen Rettern, die weiter, und mancherlei neuen Schickſa¬ len entgegen fuhren. Zuerſt wurden ſie durch vierzig¬ tägige Nordweſtwinde aufgehalten, bis Opfer und Gebet zu allen zwölf Göttern ihnen zu friſcher Fahrt verhalf. Sie waren im beſten Seegeln begriffen, als ein lautes Toſen ihnen von ferne ſchon ans Ohr ſchlug. Es war das Krachen der immer zuſammenſtoßenden und immer wieder zurückprallenden Symplegaden, der Wiederhall der Ufer und das Ziſchen des zuſammengepreßten Meeres. Tiphys der Steuermann ſtellte ſich wachſam ans Steuer¬ ruder. Euphemus der Held erhub ſich im Schiffe und hielt auf der flachen Rechten eine Taube. Wenn dieſe, hatte Phineus ihnen geweiſſagt, furchtlos zwiſchen den Felſen durchflöge, ſo dürften auch ſie kecklich die Durch¬ fahrt wagen. Eben öffneten ſich die Felſen: Euphemus ließ die Taube fliegen; Alle richteten ihre Häupter in Erwartung empor. Die Taube flog mitten hindurch, aber ſchon näherten ſich die Felſen wieder, das ſchäu¬ mende Meer wallte ziſchend einer Wolke gleich auf; ein Brauſen erfüllte Waſſer und Luft; jetzt ſtießen die Fel¬ ſen zuſammen und klemmten der Taube die letzten Schwanzfedern ab, doch war ſie glücklich hindurch ge¬ kommen. Mit lauter Stimme ermunterte Tiphys die Ruderer, dann aber öffneten ſich die Felſen wieder und die in den Zwiſchenraum ſtrömende Flut zog das Schiff mit ſich hinein. Jetzt hing das Verderben über ihrem Haupte: eine Thurmhohe Woge wälzte ſich ihnen entge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/138
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/138>, abgerufen am 17.11.2024.