Im Traume, und schon in jenem Zustande des Deliri- ums, der meist vor dem Einschlafen vorhergeht, scheint die Seele eine ganz andre Sprache zu sprechen als ge- wöhnlich. Gewiße Naturgegenstände oder Eigenschaften der Dinge, bedeuten jetzt auf einmal Personen und um- gekehrt stellen sich uns gewisse Eigenschaften oder Hand- lungen, unter dem Bilde von Personen dar. So lange die Seele diese Sprache redet, folgen ihre Ideen einem andern Gesetz der Association als gewöhnlich, und es ist nicht zu läugnen, daß jene neue Ideenverbindung einen viel rapideren, geisterhafteren und kürzeren Gang oder Flug nimmt, als die des wachen Zuftandes, wo wir mehr mit unsern Worten denken. Wir drücken in jener Sprache durch einige wenige hieroglyphische, seltsam aneinander gefügte Bilder, die wir uns entweder schnell nacheinan- der oder auch nebeneinander und auf einmal vorstellen, in wenig Momenten mehr aus, als wir mit Worten in ganzen Stunden auseinander zu setzen vermöchten; er- fahren in dem Traume eines kurzen Schlummers öfters mehr, als im Gange der gewöhnlichen Sprache in gan- zen Tagen geschehen könnte, und das ohne eigentliche Lücken, in einem in sich selber regelmäßigen Zusam- menhange, der nur freilich ein ganz eigenthümlicher, ungewöhnlicher ist.
Ohne daß wir deshalb gerade dem Traume vor dem Wachen, dem Närrischseyn vor der Besonnenheit
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1. Die Sprache des Traumes.
Im Traume, und ſchon in jenem Zuſtande des Deliri- ums, der meiſt vor dem Einſchlafen vorhergeht, ſcheint die Seele eine ganz andre Sprache zu ſprechen als ge- woͤhnlich. Gewiße Naturgegenſtaͤnde oder Eigenſchaften der Dinge, bedeuten jetzt auf einmal Perſonen und um- gekehrt ſtellen ſich uns gewiſſe Eigenſchaften oder Hand- lungen, unter dem Bilde von Perſonen dar. So lange die Seele dieſe Sprache redet, folgen ihre Ideen einem andern Geſetz der Aſſociation als gewoͤhnlich, und es iſt nicht zu laͤugnen, daß jene neue Ideenverbindung einen viel rapideren, geiſterhafteren und kuͤrzeren Gang oder Flug nimmt, als die des wachen Zuftandes, wo wir mehr mit unſern Worten denken. Wir druͤcken in jener Sprache durch einige wenige hieroglyphiſche, ſeltſam aneinander gefuͤgte Bilder, die wir uns entweder ſchnell nacheinan- der oder auch nebeneinander und auf einmal vorſtellen, in wenig Momenten mehr aus, als wir mit Worten in ganzen Stunden auseinander zu ſetzen vermoͤchten; er- fahren in dem Traume eines kurzen Schlummers oͤfters mehr, als im Gange der gewoͤhnlichen Sprache in gan- zen Tagen geſchehen koͤnnte, und das ohne eigentliche Luͤcken, in einem in ſich ſelber regelmaͤßigen Zuſam- menhange, der nur freilich ein ganz eigenthuͤmlicher, ungewoͤhnlicher iſt.
Ohne daß wir deshalb gerade dem Traume vor dem Wachen, dem Naͤrriſchſeyn vor der Beſonnenheit
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1. Die Sprache des Traumes.
Im Traume, und ſchon in jenem Zuſtande des Deliri-
ums, der meiſt vor dem Einſchlafen vorhergeht, ſcheint
die Seele eine ganz andre Sprache zu ſprechen als ge-
woͤhnlich. Gewiße Naturgegenſtaͤnde oder Eigenſchaften
der Dinge, bedeuten jetzt auf einmal Perſonen und um-
gekehrt ſtellen ſich uns gewiſſe Eigenſchaften oder Hand-
lungen, unter dem Bilde von Perſonen dar. So lange
die Seele dieſe Sprache redet, folgen ihre Ideen einem
andern Geſetz der Aſſociation als gewoͤhnlich, und es iſt
nicht zu laͤugnen, daß jene neue Ideenverbindung einen
viel rapideren, geiſterhafteren und kuͤrzeren Gang oder
Flug nimmt, als die des wachen Zuftandes, wo wir mehr
mit unſern Worten denken. Wir druͤcken in jener Sprache
durch einige wenige hieroglyphiſche, ſeltſam aneinander
gefuͤgte Bilder, die wir uns entweder ſchnell nacheinan-
der oder auch nebeneinander und auf einmal vorſtellen,
in wenig Momenten mehr aus, als wir mit Worten in
ganzen Stunden auseinander zu ſetzen vermoͤchten; er-
fahren in dem Traume eines kurzen Schlummers oͤfters
mehr, als im Gange der gewoͤhnlichen Sprache in gan-
zen Tagen geſchehen koͤnnte, und das ohne eigentliche
Luͤcken, in einem in ſich ſelber regelmaͤßigen Zuſam-
menhange, der nur freilich ein ganz eigenthuͤmlicher,
ungewoͤhnlicher iſt.
Ohne daß wir deshalb gerade dem Traume vor
dem Wachen, dem Naͤrriſchſeyn vor der Beſonnenheit
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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/11>, abgerufen am 22.02.2025.
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