Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite
1. Die Sprache des Traumes.

Im Traume, und schon in jenem Zustande des Deliri-
ums, der meist vor dem Einschlafen vorhergeht, scheint
die Seele eine ganz andre Sprache zu sprechen als ge-
wöhnlich. Gewiße Naturgegenstände oder Eigenschaften
der Dinge, bedeuten jetzt auf einmal Personen und um-
gekehrt stellen sich uns gewisse Eigenschaften oder Hand-
lungen, unter dem Bilde von Personen dar. So lange
die Seele diese Sprache redet, folgen ihre Ideen einem
andern Gesetz der Association als gewöhnlich, und es ist
nicht zu läugnen, daß jene neue Ideenverbindung einen
viel rapideren, geisterhafteren und kürzeren Gang oder
Flug nimmt, als die des wachen Zuftandes, wo wir mehr
mit unsern Worten denken. Wir drücken in jener Sprache
durch einige wenige hieroglyphische, seltsam aneinander
gefügte Bilder, die wir uns entweder schnell nacheinan-
der oder auch nebeneinander und auf einmal vorstellen,
in wenig Momenten mehr aus, als wir mit Worten in
ganzen Stunden auseinander zu setzen vermöchten; er-
fahren in dem Traume eines kurzen Schlummers öfters
mehr, als im Gange der gewöhnlichen Sprache in gan-
zen Tagen geschehen könnte, und das ohne eigentliche
Lücken, in einem in sich selber regelmäßigen Zusam-
menhange, der nur freilich ein ganz eigenthümlicher,
ungewöhnlicher ist.

Ohne daß wir deshalb gerade dem Traume vor
dem Wachen, dem Närrischseyn vor der Besonnenheit

ei-
[1]
1. Die Sprache des Traumes.

Im Traume, und ſchon in jenem Zuſtande des Deliri-
ums, der meiſt vor dem Einſchlafen vorhergeht, ſcheint
die Seele eine ganz andre Sprache zu ſprechen als ge-
woͤhnlich. Gewiße Naturgegenſtaͤnde oder Eigenſchaften
der Dinge, bedeuten jetzt auf einmal Perſonen und um-
gekehrt ſtellen ſich uns gewiſſe Eigenſchaften oder Hand-
lungen, unter dem Bilde von Perſonen dar. So lange
die Seele dieſe Sprache redet, folgen ihre Ideen einem
andern Geſetz der Aſſociation als gewoͤhnlich, und es iſt
nicht zu laͤugnen, daß jene neue Ideenverbindung einen
viel rapideren, geiſterhafteren und kuͤrzeren Gang oder
Flug nimmt, als die des wachen Zuftandes, wo wir mehr
mit unſern Worten denken. Wir druͤcken in jener Sprache
durch einige wenige hieroglyphiſche, ſeltſam aneinander
gefuͤgte Bilder, die wir uns entweder ſchnell nacheinan-
der oder auch nebeneinander und auf einmal vorſtellen,
in wenig Momenten mehr aus, als wir mit Worten in
ganzen Stunden auseinander zu ſetzen vermoͤchten; er-
fahren in dem Traume eines kurzen Schlummers oͤfters
mehr, als im Gange der gewoͤhnlichen Sprache in gan-
zen Tagen geſchehen koͤnnte, und das ohne eigentliche
Luͤcken, in einem in ſich ſelber regelmaͤßigen Zuſam-
menhange, der nur freilich ein ganz eigenthuͤmlicher,
ungewoͤhnlicher iſt.

Ohne daß wir deshalb gerade dem Traume vor
dem Wachen, dem Naͤrriſchſeyn vor der Beſonnenheit

ei-
[1]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0011" n="[1]"/>
      <div n="1">
        <head>1. Die Sprache des Traumes.</head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">I</hi>m Traume, und &#x017F;chon in jenem Zu&#x017F;tande des Deliri-<lb/>
ums, der mei&#x017F;t vor dem Ein&#x017F;chlafen vorhergeht, &#x017F;cheint<lb/>
die Seele eine ganz andre Sprache zu &#x017F;prechen als ge-<lb/>
wo&#x0364;hnlich. Gewiße Naturgegen&#x017F;ta&#x0364;nde oder Eigen&#x017F;chaften<lb/>
der Dinge, <hi rendition="#fr">bedeuten</hi> jetzt auf einmal Per&#x017F;onen und um-<lb/>
gekehrt &#x017F;tellen &#x017F;ich uns gewi&#x017F;&#x017F;e Eigen&#x017F;chaften oder Hand-<lb/>
lungen, unter dem Bilde von Per&#x017F;onen dar. So lange<lb/>
die Seele die&#x017F;e Sprache redet, folgen ihre Ideen einem<lb/>
andern Ge&#x017F;etz der A&#x017F;&#x017F;ociation als gewo&#x0364;hnlich, und es i&#x017F;t<lb/>
nicht zu la&#x0364;ugnen, daß jene neue Ideenverbindung einen<lb/>
viel rapideren, gei&#x017F;terhafteren und ku&#x0364;rzeren Gang oder<lb/>
Flug nimmt, als die des wachen Zuftandes, wo wir mehr<lb/>
mit un&#x017F;ern Worten denken. Wir dru&#x0364;cken in jener Sprache<lb/>
durch einige wenige hieroglyphi&#x017F;che, &#x017F;elt&#x017F;am aneinander<lb/>
gefu&#x0364;gte Bilder, die wir uns entweder &#x017F;chnell nacheinan-<lb/>
der oder auch nebeneinander und auf einmal vor&#x017F;tellen,<lb/>
in wenig Momenten mehr aus, als wir mit Worten in<lb/>
ganzen Stunden auseinander zu &#x017F;etzen vermo&#x0364;chten; er-<lb/>
fahren in dem Traume eines kurzen Schlummers o&#x0364;fters<lb/>
mehr, als im Gange der gewo&#x0364;hnlichen Sprache in gan-<lb/>
zen Tagen ge&#x017F;chehen ko&#x0364;nnte, und das ohne eigentliche<lb/>
Lu&#x0364;cken, in einem in &#x017F;ich &#x017F;elber regelma&#x0364;ßigen Zu&#x017F;am-<lb/>
menhange, der nur freilich ein ganz eigenthu&#x0364;mlicher,<lb/>
ungewo&#x0364;hnlicher i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Ohne daß wir deshalb gerade dem Traume vor<lb/>
dem Wachen, dem Na&#x0364;rri&#x017F;ch&#x017F;eyn vor der Be&#x017F;onnenheit<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><supplied>1</supplied></fw><fw place="bottom" type="catch">ei-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[1]/0011] 1. Die Sprache des Traumes. Im Traume, und ſchon in jenem Zuſtande des Deliri- ums, der meiſt vor dem Einſchlafen vorhergeht, ſcheint die Seele eine ganz andre Sprache zu ſprechen als ge- woͤhnlich. Gewiße Naturgegenſtaͤnde oder Eigenſchaften der Dinge, bedeuten jetzt auf einmal Perſonen und um- gekehrt ſtellen ſich uns gewiſſe Eigenſchaften oder Hand- lungen, unter dem Bilde von Perſonen dar. So lange die Seele dieſe Sprache redet, folgen ihre Ideen einem andern Geſetz der Aſſociation als gewoͤhnlich, und es iſt nicht zu laͤugnen, daß jene neue Ideenverbindung einen viel rapideren, geiſterhafteren und kuͤrzeren Gang oder Flug nimmt, als die des wachen Zuftandes, wo wir mehr mit unſern Worten denken. Wir druͤcken in jener Sprache durch einige wenige hieroglyphiſche, ſeltſam aneinander gefuͤgte Bilder, die wir uns entweder ſchnell nacheinan- der oder auch nebeneinander und auf einmal vorſtellen, in wenig Momenten mehr aus, als wir mit Worten in ganzen Stunden auseinander zu ſetzen vermoͤchten; er- fahren in dem Traume eines kurzen Schlummers oͤfters mehr, als im Gange der gewoͤhnlichen Sprache in gan- zen Tagen geſchehen koͤnnte, und das ohne eigentliche Luͤcken, in einem in ſich ſelber regelmaͤßigen Zuſam- menhange, der nur freilich ein ganz eigenthuͤmlicher, ungewoͤhnlicher iſt. Ohne daß wir deshalb gerade dem Traume vor dem Wachen, dem Naͤrriſchſeyn vor der Beſonnenheit ei- 1

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/11
Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/11>, abgerufen am 19.11.2024.