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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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EINLEITUNG.
praktische Aufgabe eben nur das wirklich Erreichbare um-
fassen darf, wie schon oben angedeutet wurde, darin:
das Kind in der wichtigsten und unentbehrlichsten aller
Künste, in der natur- und bestimmungsgemässen Le-
benskunst
so weit vorzubereiten und einzuschulen,
dass es darin diejenige Selbständigkeit erlangt, welche
es fähig macht, die richtige Leitung seines Lebens
später allein zu übernehmen und durch die tausend
Klippen und Stürme der Welt glücklich, d. h. mit mög-
lichster Erreichung seines wahren Lebenszieles durch-
zuführen;

oder mit andern Worten:
die Neigung und Fähigkeit unbegrenzter Selbst-
bildung zur Humanität und Veredelung von
Stufe zu Stufe möglichst zu entwickeln und
auszubilden
.

Das hochwichtige Erziehungsgeschäft verlangt demnach
klare Erkenntniss der Natur und Bestimmung des Menschen.
Es setzt voraus eine Erziehungswissenschaft -- eine Wissen-
schaft, welche für die ganze Menschheit die wichtigste und
unentbehrlichste ist. Sehen wir uns aber danach um, wie es
mit dieser Wissenschaft steht, so finden wir, dass trotz des
hochgestiegenen übrigen Culturzustandes unbegreiflicher Weise
gerade sie unter allen andern Wissenschaften am meisten un-
beachtet und unentwickelt geblieben ist. Einerseits ist unseres
Wissens ihr noch auf keiner Universität ein besonderer Lehr-
stuhl errichtet, obgleich sie als eine der ersten und reichhal-
tigsten unter den geistigen Schwestern einen solchen allein
vollkommen ausfüllen und dafür die unberechenbarsten Segens-
keime spenden würde. Andrerseits ist sie, wohl eben mit
aus diesem Grunde, unter allen Wissenschaften am wenigsten
in's Leben gedrungen. Denn die eigentliche, naturgemässe
Erziehung, die häusliche, besteht entweder nur in einem ziem-
lich einwirkungslosen Heranwachsenlassen der Kinder, in der
blinden Hoffnung, dass, weil unter Tausenden von Kindern hin
und wieder einmal eins durch ganz aussergewöhnlichen Selbst-
bildungstrieb oder durch ganz besonders glückliche Einwir-

EINLEITUNG.
praktische Aufgabe eben nur das wirklich Erreichbare um-
fassen darf, wie schon oben angedeutet wurde, darin:
das Kind in der wichtigsten und unentbehrlichsten aller
Künste, in der natur- und bestimmungsgemässen Le-
benskunst
so weit vorzubereiten und einzuschulen,
dass es darin diejenige Selbständigkeit erlangt, welche
es fähig macht, die richtige Leitung seines Lebens
später allein zu übernehmen und durch die tausend
Klippen und Stürme der Welt glücklich, d. h. mit mög-
lichster Erreichung seines wahren Lebenszieles durch-
zuführen;

oder mit andern Worten:
die Neigung und Fähigkeit unbegrenzter Selbst-
bildung zur Humanität und Veredelung von
Stufe zu Stufe möglichst zu entwickeln und
auszubilden
.

Das hochwichtige Erziehungsgeschäft verlangt demnach
klare Erkenntniss der Natur und Bestimmung des Menschen.
Es setzt voraus eine Erziehungswissenschaft — eine Wissen-
schaft, welche für die ganze Menschheit die wichtigste und
unentbehrlichste ist. Sehen wir uns aber danach um, wie es
mit dieser Wissenschaft steht, so finden wir, dass trotz des
hochgestiegenen übrigen Culturzustandes unbegreiflicher Weise
gerade sie unter allen andern Wissenschaften am meisten un-
beachtet und unentwickelt geblieben ist. Einerseits ist unseres
Wissens ihr noch auf keiner Universität ein besonderer Lehr-
stuhl errichtet, obgleich sie als eine der ersten und reichhal-
tigsten unter den geistigen Schwestern einen solchen allein
vollkommen ausfüllen und dafür die unberechenbarsten Segens-
keime spenden würde. Andrerseits ist sie, wohl eben mit
aus diesem Grunde, unter allen Wissenschaften am wenigsten
in's Leben gedrungen. Denn die eigentliche, naturgemässe
Erziehung, die häusliche, besteht entweder nur in einem ziem-
lich einwirkungslosen Heranwachsenlassen der Kinder, in der
blinden Hoffnung, dass, weil unter Tausenden von Kindern hin
und wieder einmal eins durch ganz aussergewöhnlichen Selbst-
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[24/0028] EINLEITUNG. praktische Aufgabe eben nur das wirklich Erreichbare um- fassen darf, wie schon oben angedeutet wurde, darin: das Kind in der wichtigsten und unentbehrlichsten aller Künste, in der natur- und bestimmungsgemässen Le- benskunst so weit vorzubereiten und einzuschulen, dass es darin diejenige Selbständigkeit erlangt, welche es fähig macht, die richtige Leitung seines Lebens später allein zu übernehmen und durch die tausend Klippen und Stürme der Welt glücklich, d. h. mit mög- lichster Erreichung seines wahren Lebenszieles durch- zuführen; oder mit andern Worten: die Neigung und Fähigkeit unbegrenzter Selbst- bildung zur Humanität und Veredelung von Stufe zu Stufe möglichst zu entwickeln und auszubilden. Das hochwichtige Erziehungsgeschäft verlangt demnach klare Erkenntniss der Natur und Bestimmung des Menschen. Es setzt voraus eine Erziehungswissenschaft — eine Wissen- schaft, welche für die ganze Menschheit die wichtigste und unentbehrlichste ist. Sehen wir uns aber danach um, wie es mit dieser Wissenschaft steht, so finden wir, dass trotz des hochgestiegenen übrigen Culturzustandes unbegreiflicher Weise gerade sie unter allen andern Wissenschaften am meisten un- beachtet und unentwickelt geblieben ist. Einerseits ist unseres Wissens ihr noch auf keiner Universität ein besonderer Lehr- stuhl errichtet, obgleich sie als eine der ersten und reichhal- tigsten unter den geistigen Schwestern einen solchen allein vollkommen ausfüllen und dafür die unberechenbarsten Segens- keime spenden würde. Andrerseits ist sie, wohl eben mit aus diesem Grunde, unter allen Wissenschaften am wenigsten in's Leben gedrungen. Denn die eigentliche, naturgemässe Erziehung, die häusliche, besteht entweder nur in einem ziem- lich einwirkungslosen Heranwachsenlassen der Kinder, in der blinden Hoffnung, dass, weil unter Tausenden von Kindern hin und wieder einmal eins durch ganz aussergewöhnlichen Selbst- bildungstrieb oder durch ganz besonders glückliche Einwir-

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/28>, abgerufen am 26.04.2024.