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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
Beziehungen zwischen Arbeitgeber und -nehmer, zumal in den Groß- und Fabrikstädten.
Das patriarchalische Verhältnis wurde durch das reine geschäftliche Vertragsverhältnis
abgelöst. Die sympathischen Gefühle in der oberen Schicht, die der hingebenden Treue
und Unterordnung in der unteren wurden seltener. Die Härte der Disciplin mußte
mit der Größe der Geschäfte wachsen und zerstörte die alten Beziehungen. Andererseits
wuchs das Selbstbewußtsein der Arbeiter mit der Schulbildung, mit dem Vereinsrecht
und der Vereinsbildung, dem Wahlrecht, der ganzen politisch-liberalen und radikalen
Atmosphäre der Zeit; Gefühle der Bitterkeit über geringen Lohn und demütigende
Behandlung entstanden in breiten Schichten des Arbeiterstandes. Die Arbeiter wollten
keine Wohlthaten mehr, sondern ihr gutes Recht, das sie in besserem Lohn, kürzerer
Arbeitszeit, in ihrer Organisation, in ihrem Mitreden beim Arbeitsvertrag sahen.
Betonte man ihnen gegenüber die Vorzüge des patriarchalischen Systems, erklärte man
gar, der Unternehmer habe in der Fabrik dasselbe Hausrecht, wie der Familienvater im
Hause, so fanden die Arbeiter nicht mit Unrecht, daß die Zeiten sich geändert, daß eine
Fabrik mit 1000 Arbeitern keine Familienstube sei, daß für viele Arbeitgeber das Lob
des patriarchalischen Systems nur eine unwahre Phrase sei.

Immer werden auch heute alle kleinen Geschäfte gewisse patriarchalische Züge
behalten, weil sie in der Natur der Sache liegen, wenn Menschen im engsten Kreise sich
täglich menschlich berühren. Und auch aus den großen Unternehmungen wird das
System nicht ganz verschwinden. Auf dem platten Lande, auf jedem isoliert liegenden
Gutshof, im Gebirge, auf allen einsam liegenden Großbetrieben, überall, wo sehr hoch
stehende, edle und humane Unternehmer einer wenig entwickelten Arbeiterschaft gegen-
über stehen, wo Arbeitgeber und Arbeiter noch Nachbarn sind, sich genau persönlich
kennen, in einem kleinen Gemeindeverband durch die Aufgaben der Kirche, Schule,
Armen- und Krankenpflege täglich menschlich zusammengeführt werden, da wird auch
heute viel von der patriarchalischen Verfassung des Großbetriebes sich erhalten, da
wird eine andere Verfassung gar nicht möglich sein, da wird das patriarchalische System
gut wirken, d. h. die Arbeiter moralisch, intellektuell, technisch und wirtschaftlich
heben und erziehen, das Zusammenarbeiten von beiden socialen Schichten fördern und
erleichtern.

Wo aber diese Bedingungen verschwunden sind oder nie vorhanden waren, wie
in den meisten Industriegegenden und in den großen Städten, wo das demokratische
Selbstbewußtsein der Arbeiter durch geistige und wirtschaftliche Hebung gestiegen ist, wo
die Unternehmer vornehme Kavaliere geworden sind, welche dem Sport leben, Rennställe
halten, den größern Teil des Jahres in der Hauptstadt oder an der Riviera leben,
da muß es verschwinden, da müssen andere rechtliche Beziehungen entstehen, andere
psychologische Faktoren in Thätigkeit treten.

Die Verfassung des Großbetriebes, die nun entsteht, ist mit dem Schlagwort des
freien Arbeitsvertrages und der privatrechtlichen Gleichheit der Kontrahenten freilich
noch nicht charakterisiert. Ebenso wenig ist die Verweisung auf den socialen Kampf
zwischen Unternehmer und Arbeiter, so wenig sich dieser vermeiden läßt, mehr als ein
Verlegenheitstrost; denn es fragt sich eben, zu was man durch den Kampf komme. Und
die socialdemakratische Hoffnung, daß die Arbeiter siegen, die Unternehmer beherrschen
oder beseitigen, alle Großbetriebe sich in socialistische oder staatliche Organisationen
verwandeln werden, ist eine psychologische Utopie. Es handelt sich darum, welche sociale
und rechtliche Ordnung die Großbetriebe unter der Voraussetzung der heutigen wenn auch
gemilderten Klassengegensätze erhalten werden, also unter der Voraussetzung, daß die
höhere Klasse im ganzen die technische und kaufmännische Leitung, die untere die aus-
führende Arbeit behalte, daß eine herrschaftliche Organisation vorherrschend bleibe, und
das Eigentum der Besitzenden in der Form des Privat- oder Aktienkapitals nicht ver-
schwinde, höchstens auf eine größere Zahl von Interessenten sich verteile.

Wer davon ausgeht, daß mit diesen Voraussetzungen in den nächsten Generationen
zu rechnen sei, aber zugleich die Schattenseiten und Gefahren der jetzigen Großbetriebs-
verfassung einsieht, der wird bei näherer Prüfung zu dem Schlusse kommen, daß nicht

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Beziehungen zwiſchen Arbeitgeber und -nehmer, zumal in den Groß- und Fabrikſtädten.
Das patriarchaliſche Verhältnis wurde durch das reine geſchäftliche Vertragsverhältnis
abgelöſt. Die ſympathiſchen Gefühle in der oberen Schicht, die der hingebenden Treue
und Unterordnung in der unteren wurden ſeltener. Die Härte der Disciplin mußte
mit der Größe der Geſchäfte wachſen und zerſtörte die alten Beziehungen. Andererſeits
wuchs das Selbſtbewußtſein der Arbeiter mit der Schulbildung, mit dem Vereinsrecht
und der Vereinsbildung, dem Wahlrecht, der ganzen politiſch-liberalen und radikalen
Atmoſphäre der Zeit; Gefühle der Bitterkeit über geringen Lohn und demütigende
Behandlung entſtanden in breiten Schichten des Arbeiterſtandes. Die Arbeiter wollten
keine Wohlthaten mehr, ſondern ihr gutes Recht, das ſie in beſſerem Lohn, kürzerer
Arbeitszeit, in ihrer Organiſation, in ihrem Mitreden beim Arbeitsvertrag ſahen.
Betonte man ihnen gegenüber die Vorzüge des patriarchaliſchen Syſtems, erklärte man
gar, der Unternehmer habe in der Fabrik dasſelbe Hausrecht, wie der Familienvater im
Hauſe, ſo fanden die Arbeiter nicht mit Unrecht, daß die Zeiten ſich geändert, daß eine
Fabrik mit 1000 Arbeitern keine Familienſtube ſei, daß für viele Arbeitgeber das Lob
des patriarchaliſchen Syſtems nur eine unwahre Phraſe ſei.

Immer werden auch heute alle kleinen Geſchäfte gewiſſe patriarchaliſche Züge
behalten, weil ſie in der Natur der Sache liegen, wenn Menſchen im engſten Kreiſe ſich
täglich menſchlich berühren. Und auch aus den großen Unternehmungen wird das
Syſtem nicht ganz verſchwinden. Auf dem platten Lande, auf jedem iſoliert liegenden
Gutshof, im Gebirge, auf allen einſam liegenden Großbetrieben, überall, wo ſehr hoch
ſtehende, edle und humane Unternehmer einer wenig entwickelten Arbeiterſchaft gegen-
über ſtehen, wo Arbeitgeber und Arbeiter noch Nachbarn ſind, ſich genau perſönlich
kennen, in einem kleinen Gemeindeverband durch die Aufgaben der Kirche, Schule,
Armen- und Krankenpflege täglich menſchlich zuſammengeführt werden, da wird auch
heute viel von der patriarchaliſchen Verfaſſung des Großbetriebes ſich erhalten, da
wird eine andere Verfaſſung gar nicht möglich ſein, da wird das patriarchaliſche Syſtem
gut wirken, d. h. die Arbeiter moraliſch, intellektuell, techniſch und wirtſchaftlich
heben und erziehen, das Zuſammenarbeiten von beiden ſocialen Schichten fördern und
erleichtern.

Wo aber dieſe Bedingungen verſchwunden ſind oder nie vorhanden waren, wie
in den meiſten Induſtriegegenden und in den großen Städten, wo das demokratiſche
Selbſtbewußtſein der Arbeiter durch geiſtige und wirtſchaftliche Hebung geſtiegen iſt, wo
die Unternehmer vornehme Kavaliere geworden ſind, welche dem Sport leben, Rennſtälle
halten, den größern Teil des Jahres in der Hauptſtadt oder an der Riviera leben,
da muß es verſchwinden, da müſſen andere rechtliche Beziehungen entſtehen, andere
pſychologiſche Faktoren in Thätigkeit treten.

Die Verfaſſung des Großbetriebes, die nun entſteht, iſt mit dem Schlagwort des
freien Arbeitsvertrages und der privatrechtlichen Gleichheit der Kontrahenten freilich
noch nicht charakteriſiert. Ebenſo wenig iſt die Verweiſung auf den ſocialen Kampf
zwiſchen Unternehmer und Arbeiter, ſo wenig ſich dieſer vermeiden läßt, mehr als ein
Verlegenheitstroſt; denn es fragt ſich eben, zu was man durch den Kampf komme. Und
die ſocialdemakratiſche Hoffnung, daß die Arbeiter ſiegen, die Unternehmer beherrſchen
oder beſeitigen, alle Großbetriebe ſich in ſocialiſtiſche oder ſtaatliche Organiſationen
verwandeln werden, iſt eine pſychologiſche Utopie. Es handelt ſich darum, welche ſociale
und rechtliche Ordnung die Großbetriebe unter der Vorausſetzung der heutigen wenn auch
gemilderten Klaſſengegenſätze erhalten werden, alſo unter der Vorausſetzung, daß die
höhere Klaſſe im ganzen die techniſche und kaufmänniſche Leitung, die untere die aus-
führende Arbeit behalte, daß eine herrſchaftliche Organiſation vorherrſchend bleibe, und
das Eigentum der Beſitzenden in der Form des Privat- oder Aktienkapitals nicht ver-
ſchwinde, höchſtens auf eine größere Zahl von Intereſſenten ſich verteile.

Wer davon ausgeht, daß mit dieſen Vorausſetzungen in den nächſten Generationen
zu rechnen ſei, aber zugleich die Schattenſeiten und Gefahren der jetzigen Großbetriebs-
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[438/0454] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Beziehungen zwiſchen Arbeitgeber und -nehmer, zumal in den Groß- und Fabrikſtädten. Das patriarchaliſche Verhältnis wurde durch das reine geſchäftliche Vertragsverhältnis abgelöſt. Die ſympathiſchen Gefühle in der oberen Schicht, die der hingebenden Treue und Unterordnung in der unteren wurden ſeltener. Die Härte der Disciplin mußte mit der Größe der Geſchäfte wachſen und zerſtörte die alten Beziehungen. Andererſeits wuchs das Selbſtbewußtſein der Arbeiter mit der Schulbildung, mit dem Vereinsrecht und der Vereinsbildung, dem Wahlrecht, der ganzen politiſch-liberalen und radikalen Atmoſphäre der Zeit; Gefühle der Bitterkeit über geringen Lohn und demütigende Behandlung entſtanden in breiten Schichten des Arbeiterſtandes. Die Arbeiter wollten keine Wohlthaten mehr, ſondern ihr gutes Recht, das ſie in beſſerem Lohn, kürzerer Arbeitszeit, in ihrer Organiſation, in ihrem Mitreden beim Arbeitsvertrag ſahen. Betonte man ihnen gegenüber die Vorzüge des patriarchaliſchen Syſtems, erklärte man gar, der Unternehmer habe in der Fabrik dasſelbe Hausrecht, wie der Familienvater im Hauſe, ſo fanden die Arbeiter nicht mit Unrecht, daß die Zeiten ſich geändert, daß eine Fabrik mit 1000 Arbeitern keine Familienſtube ſei, daß für viele Arbeitgeber das Lob des patriarchaliſchen Syſtems nur eine unwahre Phraſe ſei. Immer werden auch heute alle kleinen Geſchäfte gewiſſe patriarchaliſche Züge behalten, weil ſie in der Natur der Sache liegen, wenn Menſchen im engſten Kreiſe ſich täglich menſchlich berühren. Und auch aus den großen Unternehmungen wird das Syſtem nicht ganz verſchwinden. Auf dem platten Lande, auf jedem iſoliert liegenden Gutshof, im Gebirge, auf allen einſam liegenden Großbetrieben, überall, wo ſehr hoch ſtehende, edle und humane Unternehmer einer wenig entwickelten Arbeiterſchaft gegen- über ſtehen, wo Arbeitgeber und Arbeiter noch Nachbarn ſind, ſich genau perſönlich kennen, in einem kleinen Gemeindeverband durch die Aufgaben der Kirche, Schule, Armen- und Krankenpflege täglich menſchlich zuſammengeführt werden, da wird auch heute viel von der patriarchaliſchen Verfaſſung des Großbetriebes ſich erhalten, da wird eine andere Verfaſſung gar nicht möglich ſein, da wird das patriarchaliſche Syſtem gut wirken, d. h. die Arbeiter moraliſch, intellektuell, techniſch und wirtſchaftlich heben und erziehen, das Zuſammenarbeiten von beiden ſocialen Schichten fördern und erleichtern. Wo aber dieſe Bedingungen verſchwunden ſind oder nie vorhanden waren, wie in den meiſten Induſtriegegenden und in den großen Städten, wo das demokratiſche Selbſtbewußtſein der Arbeiter durch geiſtige und wirtſchaftliche Hebung geſtiegen iſt, wo die Unternehmer vornehme Kavaliere geworden ſind, welche dem Sport leben, Rennſtälle halten, den größern Teil des Jahres in der Hauptſtadt oder an der Riviera leben, da muß es verſchwinden, da müſſen andere rechtliche Beziehungen entſtehen, andere pſychologiſche Faktoren in Thätigkeit treten. Die Verfaſſung des Großbetriebes, die nun entſteht, iſt mit dem Schlagwort des freien Arbeitsvertrages und der privatrechtlichen Gleichheit der Kontrahenten freilich noch nicht charakteriſiert. Ebenſo wenig iſt die Verweiſung auf den ſocialen Kampf zwiſchen Unternehmer und Arbeiter, ſo wenig ſich dieſer vermeiden läßt, mehr als ein Verlegenheitstroſt; denn es fragt ſich eben, zu was man durch den Kampf komme. Und die ſocialdemakratiſche Hoffnung, daß die Arbeiter ſiegen, die Unternehmer beherrſchen oder beſeitigen, alle Großbetriebe ſich in ſocialiſtiſche oder ſtaatliche Organiſationen verwandeln werden, iſt eine pſychologiſche Utopie. Es handelt ſich darum, welche ſociale und rechtliche Ordnung die Großbetriebe unter der Vorausſetzung der heutigen wenn auch gemilderten Klaſſengegenſätze erhalten werden, alſo unter der Vorausſetzung, daß die höhere Klaſſe im ganzen die techniſche und kaufmänniſche Leitung, die untere die aus- führende Arbeit behalte, daß eine herrſchaftliche Organiſation vorherrſchend bleibe, und das Eigentum der Beſitzenden in der Form des Privat- oder Aktienkapitals nicht ver- ſchwinde, höchſtens auf eine größere Zahl von Intereſſenten ſich verteile. Wer davon ausgeht, daß mit dieſen Vorausſetzungen in den nächſten Generationen zu rechnen ſei, aber zugleich die Schattenſeiten und Gefahren der jetzigen Großbetriebs- verfaſſung einſieht, der wird bei näherer Prüfung zu dem Schluſſe kommen, daß nicht

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/454>, abgerufen am 26.04.2024.