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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
sind an die Stelle getreten, deren sittlicher Kern und Wert teilweise noch recht zweifelhaft
ist. Es wird die große Frage sein, ob die Ausbildung philosophischer, ethischer Systeme
und das Anwachsen anderer sittlicher Lebensmächte, des Staates, der Schule, der öffent
lichen Meinung heute schon, ob sie jemals stark genug ist und sein wird, um für die
Menge der gewöhnlichen Menschen die religiösen Stützen und Normen zu entbehren, ob
nicht eine religionslose Gesellschaft einem Schiffchen gleicht, das, in gefährlicher Lage
zwischen tausend Klippen, in der Hoffnung auf eine gute Brise neuen materialistischen
Windes das Ankertau gekappt hat, das es bisher festhielt, das es bisher im wilden
Spiel roher Naturmächte und Leidenschaften vor dem Zerschellen an dem Felsen mensch-
licher Gemeinheit bewahrte.

Die Läuterung unserer religiösen Vorstellungen bis zu dem Grade, daß sie mit
unseren wissenschaftlichen und sittlichen Überzeugungen wieder in Übereinstimmung kommen
und so von neuem die volle alte religiöse Kraft auf unser Gemütsleben erhalten, scheint
den Ausweg zu bieten, den in analogen Fällen die Geschichte schon öfters gesucht und
gefunden hat.

8. Die sittlichen Ordnungen des gesellschaftlichen Lebens. Sitte, Recht und
Moral.
Lazarus, Über den Ursprung der Sitten. Berlin 1867. -- Schmoller, Grundfragen des
Rechts und der Volkswirtschaft. 1875. S. 31--52: Wirtschaft, Sitte und Recht; jetzt Grundfr.
S. 43--69. --
Rümelin, R.A. 2. S. 149--175: Über das Wesen der Gewohnheit.
v. Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwickelung
4 Bde. 1852--84. --
Ders., Der Zweck im Recht. 2 Bde. 1877--84. -- Maine, Ancient
law.
1861. 3. Aufl. 1874. --
Ders., Early history of institutions. 1875. -- Arnold, Kultur
und Rechtsleben. 1865. --
Ders., Kultur und Recht der Römer. 1868. -- Trendelenburg,
Naturrecht auf Grund der Ethik. 1868. 2. Aufl. --
v. Kirchmann, Die Grundbegriffe des
Rechts und der Moral. 1869. --
Jellinek, Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und
Strafe. 1878. --
Bastian, Rechtsverhältnisse bei verschiedenen Völkern der Erde. 1872. -- A. H.
Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft. 2 Bde. 1880--81. --
Schmoller, Die
Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft. J. f. G.V. 1881, jetzt auch Soc. u. Gew.P. --
A. Merkel,
Recht und Macht. J. f. G.V. 1881. --
Ders., Juristische Encyklopädie. 1885. -- A. Wagner,
Grundlegung. 2. Teil. Volkswirtschaft und Recht. 1896. --
Stammler, Wirtschaft und Recht
nach materialistischer Geschichtsauffassung. 1896. --
Henry C. Adams, Volkswirtschaft und Rechts-
ordnung. J. f. G.V. 1898.

Alles sittliche Leben einschließlich des religiösen ist ein nie ruhender psychischer
Prozeß, eine stete Umsetzung von Vorstellungen und Urteilen in Gefühle, von Gefühlen,
die als Impulse wirken, in Handlungen. Auf Grund der natürlichen und historischen
Bedingungen dieses Prozesses muß sich durch die Wiederholung gleicher Fälle und gleicher
Beurteilung immer wieder in bestimmten Kreisen ein fester Maßstab der Beurteilung
bilden, der praktisch zur Durchschnittsregel, zur Norm des Handelns wird.

Es hieße Übermenschliches vom gewöhnlichen Individuum verlangen, wenn es ohne
solche Durchschnittsmaßstäbe und Durchschnittsregeln, die dem gewöhnlichen Lauf des
Lebens und den realen Bedingungen und Thatsachen desselben einerseits, den sittlichen
Idealen andererseits angepaßt sind, sich jeden Augenblick zurecht finden sollte. Diese
Regeln erhalten durch die oben geschilderten Kontroll- und Strafapparate ihren autori-
tativen Charakter. Sie schärfen täglich und stündlich das Sittliche ein; sie sind gleichsam
die geprägte Münze des Sittlichen, die stets umlaufend, stets gebietend und verbietend
jede Handlung, jeden Schritt begleitet. Für die Mehrzahl der gewöhnlichen Menschen
faßt sich so das Sittliche zusammen in diesen Normen, die den niedrigen Trieben ent-
gegentreten, den Menschen in genereller und einfacher Weise sagen, welche Handlung die
zu billigende, vorzuziehende, sittliche sei. Ob sie im einzelnen immer ganz genau passen,
ist nicht so wichtig, als daß sie überhaupt bestehen, daß sie als Macht über den einzelnen
und ihrem Triebleben anerkannt werden. Sie ersparen dem gewöhnlichen Menschen Prüfung
und Wahl, zu der er bei den ewig sich wiederholenden inneren Konflikten und ihrer

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ſind an die Stelle getreten, deren ſittlicher Kern und Wert teilweiſe noch recht zweifelhaft
iſt. Es wird die große Frage ſein, ob die Ausbildung philoſophiſcher, ethiſcher Syſteme
und das Anwachſen anderer ſittlicher Lebensmächte, des Staates, der Schule, der öffent
lichen Meinung heute ſchon, ob ſie jemals ſtark genug iſt und ſein wird, um für die
Menge der gewöhnlichen Menſchen die religiöſen Stützen und Normen zu entbehren, ob
nicht eine religionsloſe Geſellſchaft einem Schiffchen gleicht, das, in gefährlicher Lage
zwiſchen tauſend Klippen, in der Hoffnung auf eine gute Briſe neuen materialiſtiſchen
Windes das Ankertau gekappt hat, das es bisher feſthielt, das es bisher im wilden
Spiel roher Naturmächte und Leidenſchaften vor dem Zerſchellen an dem Felſen menſch-
licher Gemeinheit bewahrte.

Die Läuterung unſerer religiöſen Vorſtellungen bis zu dem Grade, daß ſie mit
unſeren wiſſenſchaftlichen und ſittlichen Überzeugungen wieder in Übereinſtimmung kommen
und ſo von neuem die volle alte religiöſe Kraft auf unſer Gemütsleben erhalten, ſcheint
den Ausweg zu bieten, den in analogen Fällen die Geſchichte ſchon öfters geſucht und
gefunden hat.

8. Die ſittlichen Ordnungen des geſellſchaftlichen Lebens. Sitte, Recht und
Moral.
Lazarus, Über den Urſprung der Sitten. Berlin 1867. — Schmoller, Grundfragen des
Rechts und der Volkswirtſchaft. 1875. S. 31—52: Wirtſchaft, Sitte und Recht; jetzt Grundfr.
S. 43—69. —
Rümelin, R.A. 2. S. 149—175: Über das Weſen der Gewohnheit.
v. Ihering, Geiſt des römiſchen Rechts auf den verſchiedenen Stufen ſeiner Entwickelung
4 Bde. 1852—84. —
Derſ., Der Zweck im Recht. 2 Bde. 1877—84. — Maine, Ancient
law.
1861. 3. Aufl. 1874. —
Derſ., Early history of institutions. 1875. — Arnold, Kultur
und Rechtsleben. 1865. —
Derſ., Kultur und Recht der Römer. 1868. — Trendelenburg,
Naturrecht auf Grund der Ethik. 1868. 2. Aufl. —
v. Kirchmann, Die Grundbegriffe des
Rechts und der Moral. 1869. —
Jellinek, Die ſocialethiſche Bedeutung von Recht, Unrecht und
Strafe. 1878. —
Baſtian, Rechtsverhältniſſe bei verſchiedenen Völkern der Erde. 1872. — A. H.
Poſt, Bauſteine für eine allgemeine Rechtswiſſenſchaft. 2 Bde. 1880—81. —
Schmoller, Die
Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft. J. f. G.V. 1881, jetzt auch Soc. u. Gew.P. —
A. Merkel,
Recht und Macht. J. f. G.V. 1881. —
Derſ., Juriſtiſche Encyklopädie. 1885. — A. Wagner,
Grundlegung. 2. Teil. Volkswirtſchaft und Recht. 1896. —
Stammler, Wirtſchaft und Recht
nach materialiſtiſcher Geſchichtsauffaſſung. 1896. —
Henry C. Adams, Volkswirtſchaft und Rechts-
ordnung. J. f. G.V. 1898.

Alles ſittliche Leben einſchließlich des religiöſen iſt ein nie ruhender pſychiſcher
Prozeß, eine ſtete Umſetzung von Vorſtellungen und Urteilen in Gefühle, von Gefühlen,
die als Impulſe wirken, in Handlungen. Auf Grund der natürlichen und hiſtoriſchen
Bedingungen dieſes Prozeſſes muß ſich durch die Wiederholung gleicher Fälle und gleicher
Beurteilung immer wieder in beſtimmten Kreiſen ein feſter Maßſtab der Beurteilung
bilden, der praktiſch zur Durchſchnittsregel, zur Norm des Handelns wird.

Es hieße Übermenſchliches vom gewöhnlichen Individuum verlangen, wenn es ohne
ſolche Durchſchnittsmaßſtäbe und Durchſchnittsregeln, die dem gewöhnlichen Lauf des
Lebens und den realen Bedingungen und Thatſachen desſelben einerſeits, den ſittlichen
Idealen andererſeits angepaßt ſind, ſich jeden Augenblick zurecht finden ſollte. Dieſe
Regeln erhalten durch die oben geſchilderten Kontroll- und Strafapparate ihren autori-
tativen Charakter. Sie ſchärfen täglich und ſtündlich das Sittliche ein; ſie ſind gleichſam
die geprägte Münze des Sittlichen, die ſtets umlaufend, ſtets gebietend und verbietend
jede Handlung, jeden Schritt begleitet. Für die Mehrzahl der gewöhnlichen Menſchen
faßt ſich ſo das Sittliche zuſammen in dieſen Normen, die den niedrigen Trieben ent-
gegentreten, den Menſchen in genereller und einfacher Weiſe ſagen, welche Handlung die
zu billigende, vorzuziehende, ſittliche ſei. Ob ſie im einzelnen immer ganz genau paſſen,
iſt nicht ſo wichtig, als daß ſie überhaupt beſtehen, daß ſie als Macht über den einzelnen
und ihrem Triebleben anerkannt werden. Sie erſparen dem gewöhnlichen Menſchen Prüfung
und Wahl, zu der er bei den ewig ſich wiederholenden inneren Konflikten und ihrer

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[48/0064] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. ſind an die Stelle getreten, deren ſittlicher Kern und Wert teilweiſe noch recht zweifelhaft iſt. Es wird die große Frage ſein, ob die Ausbildung philoſophiſcher, ethiſcher Syſteme und das Anwachſen anderer ſittlicher Lebensmächte, des Staates, der Schule, der öffent lichen Meinung heute ſchon, ob ſie jemals ſtark genug iſt und ſein wird, um für die Menge der gewöhnlichen Menſchen die religiöſen Stützen und Normen zu entbehren, ob nicht eine religionsloſe Geſellſchaft einem Schiffchen gleicht, das, in gefährlicher Lage zwiſchen tauſend Klippen, in der Hoffnung auf eine gute Briſe neuen materialiſtiſchen Windes das Ankertau gekappt hat, das es bisher feſthielt, das es bisher im wilden Spiel roher Naturmächte und Leidenſchaften vor dem Zerſchellen an dem Felſen menſch- licher Gemeinheit bewahrte. Die Läuterung unſerer religiöſen Vorſtellungen bis zu dem Grade, daß ſie mit unſeren wiſſenſchaftlichen und ſittlichen Überzeugungen wieder in Übereinſtimmung kommen und ſo von neuem die volle alte religiöſe Kraft auf unſer Gemütsleben erhalten, ſcheint den Ausweg zu bieten, den in analogen Fällen die Geſchichte ſchon öfters geſucht und gefunden hat. 8. Die ſittlichen Ordnungen des geſellſchaftlichen Lebens. Sitte, Recht und Moral. Lazarus, Über den Urſprung der Sitten. Berlin 1867. — Schmoller, Grundfragen des Rechts und der Volkswirtſchaft. 1875. S. 31—52: Wirtſchaft, Sitte und Recht; jetzt Grundfr. S. 43—69. — Rümelin, R.A. 2. S. 149—175: Über das Weſen der Gewohnheit. v. Ihering, Geiſt des römiſchen Rechts auf den verſchiedenen Stufen ſeiner Entwickelung 4 Bde. 1852—84. — Derſ., Der Zweck im Recht. 2 Bde. 1877—84. — Maine, Ancient law. 1861. 3. Aufl. 1874. — Derſ., Early history of institutions. 1875. — Arnold, Kultur und Rechtsleben. 1865. — Derſ., Kultur und Recht der Römer. 1868. — Trendelenburg, Naturrecht auf Grund der Ethik. 1868. 2. Aufl. — v. Kirchmann, Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral. 1869. — Jellinek, Die ſocialethiſche Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe. 1878. — Baſtian, Rechtsverhältniſſe bei verſchiedenen Völkern der Erde. 1872. — A. H. Poſt, Bauſteine für eine allgemeine Rechtswiſſenſchaft. 2 Bde. 1880—81. — Schmoller, Die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft. J. f. G.V. 1881, jetzt auch Soc. u. Gew.P. — A. Merkel, Recht und Macht. J. f. G.V. 1881. — Derſ., Juriſtiſche Encyklopädie. 1885. — A. Wagner, Grundlegung. 2. Teil. Volkswirtſchaft und Recht. 1896. — Stammler, Wirtſchaft und Recht nach materialiſtiſcher Geſchichtsauffaſſung. 1896. — Henry C. Adams, Volkswirtſchaft und Rechts- ordnung. J. f. G.V. 1898. Alles ſittliche Leben einſchließlich des religiöſen iſt ein nie ruhender pſychiſcher Prozeß, eine ſtete Umſetzung von Vorſtellungen und Urteilen in Gefühle, von Gefühlen, die als Impulſe wirken, in Handlungen. Auf Grund der natürlichen und hiſtoriſchen Bedingungen dieſes Prozeſſes muß ſich durch die Wiederholung gleicher Fälle und gleicher Beurteilung immer wieder in beſtimmten Kreiſen ein feſter Maßſtab der Beurteilung bilden, der praktiſch zur Durchſchnittsregel, zur Norm des Handelns wird. Es hieße Übermenſchliches vom gewöhnlichen Individuum verlangen, wenn es ohne ſolche Durchſchnittsmaßſtäbe und Durchſchnittsregeln, die dem gewöhnlichen Lauf des Lebens und den realen Bedingungen und Thatſachen desſelben einerſeits, den ſittlichen Idealen andererſeits angepaßt ſind, ſich jeden Augenblick zurecht finden ſollte. Dieſe Regeln erhalten durch die oben geſchilderten Kontroll- und Strafapparate ihren autori- tativen Charakter. Sie ſchärfen täglich und ſtündlich das Sittliche ein; ſie ſind gleichſam die geprägte Münze des Sittlichen, die ſtets umlaufend, ſtets gebietend und verbietend jede Handlung, jeden Schritt begleitet. Für die Mehrzahl der gewöhnlichen Menſchen faßt ſich ſo das Sittliche zuſammen in dieſen Normen, die den niedrigen Trieben ent- gegentreten, den Menſchen in genereller und einfacher Weiſe ſagen, welche Handlung die zu billigende, vorzuziehende, ſittliche ſei. Ob ſie im einzelnen immer ganz genau paſſen, iſt nicht ſo wichtig, als daß ſie überhaupt beſtehen, daß ſie als Macht über den einzelnen und ihrem Triebleben anerkannt werden. Sie erſparen dem gewöhnlichen Menſchen Prüfung und Wahl, zu der er bei den ewig ſich wiederholenden inneren Konflikten und ihrer

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/64>, abgerufen am 30.12.2024.