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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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6. Das Auslegen kann nach der allgemeinen Übersicht oft
lange ruhig fortgehn ohne eigentlich kunstlos zu sein, weil doch
alles an das allgemeine Bild gehalten wird. Sobald aber
eine Schwierigkeit im Einzelnen entsteht, entsteht auch der
Zweifel, ob die Schuld am Verfasser liegt oder an uns. Das
erste darf man nur nach dem Maaß voraussezen als er sich
schon in der Übersicht sorglos und ungenau oder auch talentlos
und verworren gezeigt hat. Bei uns kann sie doppelte Ursach
haben entweder ein früheres unbemerkt gebliebenes Mißver-
ständniß oder eine unzureichende Sprachkunde, so daß uns die
rechte Gebrauchsweise des Wortes nicht einfällt. Von dem er-
sten wird erst späterhin die Rede sein können wegen des Zu-
sammenhangs mit der Lehre von den Parallelstellen. Hier
also zunächst von dem andern.

7. Die Wörterbücher welche die natürlichen Ergänzungs-
mittel sind sehen die verschiedenen Gebrauchsweisen als Aggre-
gat eines mannigfaltigen lose verbundenen an. Auch das Be-
streben die Bedeutung auf ursprüngliche Einheit zurückzuführen
ist nicht durchgeführt weil sonst ein Wörterbuch real nach dem
System der Begriffe müßte geordnet sein, welches unmöglich
ist. Die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen ist dann in eine
Reihe von Gegensäzen zu zerlegen. Die erste ist die der ei-
gentlichen und uneigentlichen. Dieser Gegensaz ver-
schwindet aber bei näherer Betrachtung. In Gleichnissen sind
zwei parallele Gedankenreihen. Das Wort steht in der seini-
gen und es soll damit nur gerechnet werden. Also behält
es seine Bedeutung. In Metaphern ist dieß nur angedeutet
und oft nur Ein Merkmal des Begriffs herausgenommen, z. E.
coma arborum, das Laub, aber coma bleibt Haar. König der
Thiere = Löwe. Der Löwe regiert nicht, aber König heißt
deswegen nicht ein nach dem Recht des Stärkeren zerreißender.
Solch ein einzelner Gebrauch giebt keine Bedeutung und ha-
bituell kann nur die ganze Phrasis werden. Man führt diesen
Gegensaz zulezt darauf zurück, daß alle geistigen Bedeutungen nicht

6. Das Auslegen kann nach der allgemeinen Überſicht oft
lange ruhig fortgehn ohne eigentlich kunſtlos zu ſein, weil doch
alles an das allgemeine Bild gehalten wird. Sobald aber
eine Schwierigkeit im Einzelnen entſteht, entſteht auch der
Zweifel, ob die Schuld am Verfaſſer liegt oder an uns. Das
erſte darf man nur nach dem Maaß vorausſezen als er ſich
ſchon in der Überſicht ſorglos und ungenau oder auch talentlos
und verworren gezeigt hat. Bei uns kann ſie doppelte Urſach
haben entweder ein fruͤheres unbemerkt gebliebenes Mißver-
ſtaͤndniß oder eine unzureichende Sprachkunde, ſo daß uns die
rechte Gebrauchsweiſe des Wortes nicht einfaͤllt. Von dem er-
ſten wird erſt ſpaͤterhin die Rede ſein koͤnnen wegen des Zu-
ſammenhangs mit der Lehre von den Parallelſtellen. Hier
alſo zunaͤchſt von dem andern.

7. Die Woͤrterbuͤcher welche die natuͤrlichen Ergaͤnzungs-
mittel ſind ſehen die verſchiedenen Gebrauchsweiſen als Aggre-
gat eines mannigfaltigen loſe verbundenen an. Auch das Be-
ſtreben die Bedeutung auf urſpruͤngliche Einheit zuruͤckzufuͤhren
iſt nicht durchgefuͤhrt weil ſonſt ein Woͤrterbuch real nach dem
Syſtem der Begriffe muͤßte geordnet ſein, welches unmoͤglich
iſt. Die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen iſt dann in eine
Reihe von Gegenſaͤzen zu zerlegen. Die erſte iſt die der ei-
gentlichen und uneigentlichen. Dieſer Gegenſaz ver-
ſchwindet aber bei naͤherer Betrachtung. In Gleichniſſen ſind
zwei parallele Gedankenreihen. Das Wort ſteht in der ſeini-
gen und es ſoll damit nur gerechnet werden. Alſo behaͤlt
es ſeine Bedeutung. In Metaphern iſt dieß nur angedeutet
und oft nur Ein Merkmal des Begriffs herausgenommen, z. E.
coma arborum, das Laub, aber coma bleibt Haar. Koͤnig der
Thiere = Loͤwe. Der Loͤwe regiert nicht, aber Koͤnig heißt
deswegen nicht ein nach dem Recht des Staͤrkeren zerreißender.
Solch ein einzelner Gebrauch giebt keine Bedeutung und ha-
bituell kann nur die ganze Phraſis werden. Man fuͤhrt dieſen
Gegenſaz zulezt darauf zuruͤck, daß alle geiſtigen Bedeutungen nicht

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[46/0070] 6. Das Auslegen kann nach der allgemeinen Überſicht oft lange ruhig fortgehn ohne eigentlich kunſtlos zu ſein, weil doch alles an das allgemeine Bild gehalten wird. Sobald aber eine Schwierigkeit im Einzelnen entſteht, entſteht auch der Zweifel, ob die Schuld am Verfaſſer liegt oder an uns. Das erſte darf man nur nach dem Maaß vorausſezen als er ſich ſchon in der Überſicht ſorglos und ungenau oder auch talentlos und verworren gezeigt hat. Bei uns kann ſie doppelte Urſach haben entweder ein fruͤheres unbemerkt gebliebenes Mißver- ſtaͤndniß oder eine unzureichende Sprachkunde, ſo daß uns die rechte Gebrauchsweiſe des Wortes nicht einfaͤllt. Von dem er- ſten wird erſt ſpaͤterhin die Rede ſein koͤnnen wegen des Zu- ſammenhangs mit der Lehre von den Parallelſtellen. Hier alſo zunaͤchſt von dem andern. 7. Die Woͤrterbuͤcher welche die natuͤrlichen Ergaͤnzungs- mittel ſind ſehen die verſchiedenen Gebrauchsweiſen als Aggre- gat eines mannigfaltigen loſe verbundenen an. Auch das Be- ſtreben die Bedeutung auf urſpruͤngliche Einheit zuruͤckzufuͤhren iſt nicht durchgefuͤhrt weil ſonſt ein Woͤrterbuch real nach dem Syſtem der Begriffe muͤßte geordnet ſein, welches unmoͤglich iſt. Die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen iſt dann in eine Reihe von Gegenſaͤzen zu zerlegen. Die erſte iſt die der ei- gentlichen und uneigentlichen. Dieſer Gegenſaz ver- ſchwindet aber bei naͤherer Betrachtung. In Gleichniſſen ſind zwei parallele Gedankenreihen. Das Wort ſteht in der ſeini- gen und es ſoll damit nur gerechnet werden. Alſo behaͤlt es ſeine Bedeutung. In Metaphern iſt dieß nur angedeutet und oft nur Ein Merkmal des Begriffs herausgenommen, z. E. coma arborum, das Laub, aber coma bleibt Haar. Koͤnig der Thiere = Loͤwe. Der Loͤwe regiert nicht, aber Koͤnig heißt deswegen nicht ein nach dem Recht des Staͤrkeren zerreißender. Solch ein einzelner Gebrauch giebt keine Bedeutung und ha- bituell kann nur die ganze Phraſis werden. Man fuͤhrt dieſen Gegenſaz zulezt darauf zuruͤck, daß alle geiſtigen Bedeutungen nicht

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/70>, abgerufen am 27.04.2024.