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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Urtheil über die Identität der Verfasser neutestam. Schriften oft
sehr schwankt. So wird die Auslegung des Briefes an die He-
bräer verschieden sein, je nachdem man ihn für einen Brief des
Paulus hält oder nicht. Ebenso schwankt das Urtheil, ob die
drei Johanneischen Briefe von Einem Verfasser sind oder nicht,
und bei den Petrinischen ist derselbe Fall.

Eine eigenthümliche Schwierigkeit haftet übrigens an den
didaktischen Stellen, (Reden) in den historischen Schriften, denn
hier tritt ein combinirtes Verfahren ein.

Der günstige Fall für die Auslegung, daß nemlich Prädicat
und Subject einander bestimmen, tritt im N. T. oft nicht ein.
So ist um so nothwendiger, sich bei der Lesung des N. T. alle
Hauptgedanken in jeder Schrift und in den Schriften jedes Ver-
fassers so zu vergegenwärtigen, daß auch sogleich bei der Ausle-
gung alles Ähnliche vor uns liegt.

Allerdings müssen wir davon ausgehn, daß durch das ganze
N. T. eine gewisse Identität der Lehren und Überzeugungen hin-
durchgeht. Das Christenthum wäre sonst kein mit sich selbst Über-
einstimmendes. Allein die christliche Sprachbildung konnte doch nur
allmählich zu Stande kommen. Und wie dieselben Gegenstände
von den Verschiedenen verschieden verstanden werden konnten, so
kann es vorkommen und kommt vor im N. T. daß dasselbe Wort
von dem einen Schriftsteller so von dem andern anders gebraucht
wird, ja derselbe Schriftsteller konnte seine Schreibart ändern.
Ein merkwürdiges Beispiel der Differenz in diesem Stücke ist der
Widerspruch zwischen Röm. 3, 28. und Jakob. 2, 20. Jakobus
verband die beiden Begriffe dikaiosune und erga, Paulus aber
nicht, ohne daß jener die pistis gänzlich ausgeschlossen hätte. Der
Widerspruch ist der zwischen dem gänzlichen und nicht gänzlichen
Ausschließen. Entweder diesen Widerspruch müssen wir anneh-
men, oder sagen, beide haben demselben Worte einen ganz ver-
schiedenen Localwerth gegeben. Aber aus dem allen ergiebt sich
die Nothwendigkeit, nicht bei den Worten stehen zu bleiben, son-

8*

Urtheil uͤber die Identitaͤt der Verfaſſer neuteſtam. Schriften oft
ſehr ſchwankt. So wird die Auslegung des Briefes an die He-
braͤer verſchieden ſein, je nachdem man ihn fuͤr einen Brief des
Paulus haͤlt oder nicht. Ebenſo ſchwankt das Urtheil, ob die
drei Johanneiſchen Briefe von Einem Verfaſſer ſind oder nicht,
und bei den Petriniſchen iſt derſelbe Fall.

Eine eigenthuͤmliche Schwierigkeit haftet uͤbrigens an den
didaktiſchen Stellen, (Reden) in den hiſtoriſchen Schriften, denn
hier tritt ein combinirtes Verfahren ein.

Der guͤnſtige Fall fuͤr die Auslegung, daß nemlich Praͤdicat
und Subject einander beſtimmen, tritt im N. T. oft nicht ein.
So iſt um ſo nothwendiger, ſich bei der Leſung des N. T. alle
Hauptgedanken in jeder Schrift und in den Schriften jedes Ver-
faſſers ſo zu vergegenwaͤrtigen, daß auch ſogleich bei der Ausle-
gung alles Ähnliche vor uns liegt.

Allerdings muͤſſen wir davon ausgehn, daß durch das ganze
N. T. eine gewiſſe Identitaͤt der Lehren und Überzeugungen hin-
durchgeht. Das Chriſtenthum waͤre ſonſt kein mit ſich ſelbſt Über-
einſtimmendes. Allein die chriſtliche Sprachbildung konnte doch nur
allmaͤhlich zu Stande kommen. Und wie dieſelben Gegenſtaͤnde
von den Verſchiedenen verſchieden verſtanden werden konnten, ſo
kann es vorkommen und kommt vor im N. T. daß daſſelbe Wort
von dem einen Schriftſteller ſo von dem andern anders gebraucht
wird, ja derſelbe Schriftſteller konnte ſeine Schreibart aͤndern.
Ein merkwuͤrdiges Beiſpiel der Differenz in dieſem Stuͤcke iſt der
Widerſpruch zwiſchen Roͤm. 3, 28. und Jakob. 2, 20. Jakobus
verband die beiden Begriffe διϰαιοσύνη und ἔϱγα, Paulus aber
nicht, ohne daß jener die πίστις gaͤnzlich ausgeſchloſſen haͤtte. Der
Widerſpruch iſt der zwiſchen dem gaͤnzlichen und nicht gaͤnzlichen
Ausſchließen. Entweder dieſen Widerſpruch muͤſſen wir anneh-
men, oder ſagen, beide haben demſelben Worte einen ganz ver-
ſchiedenen Localwerth gegeben. Aber aus dem allen ergiebt ſich
die Nothwendigkeit, nicht bei den Worten ſtehen zu bleiben, ſon-

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[115/0139] Urtheil uͤber die Identitaͤt der Verfaſſer neuteſtam. Schriften oft ſehr ſchwankt. So wird die Auslegung des Briefes an die He- braͤer verſchieden ſein, je nachdem man ihn fuͤr einen Brief des Paulus haͤlt oder nicht. Ebenſo ſchwankt das Urtheil, ob die drei Johanneiſchen Briefe von Einem Verfaſſer ſind oder nicht, und bei den Petriniſchen iſt derſelbe Fall. Eine eigenthuͤmliche Schwierigkeit haftet uͤbrigens an den didaktiſchen Stellen, (Reden) in den hiſtoriſchen Schriften, denn hier tritt ein combinirtes Verfahren ein. Der guͤnſtige Fall fuͤr die Auslegung, daß nemlich Praͤdicat und Subject einander beſtimmen, tritt im N. T. oft nicht ein. So iſt um ſo nothwendiger, ſich bei der Leſung des N. T. alle Hauptgedanken in jeder Schrift und in den Schriften jedes Ver- faſſers ſo zu vergegenwaͤrtigen, daß auch ſogleich bei der Ausle- gung alles Ähnliche vor uns liegt. Allerdings muͤſſen wir davon ausgehn, daß durch das ganze N. T. eine gewiſſe Identitaͤt der Lehren und Überzeugungen hin- durchgeht. Das Chriſtenthum waͤre ſonſt kein mit ſich ſelbſt Über- einſtimmendes. Allein die chriſtliche Sprachbildung konnte doch nur allmaͤhlich zu Stande kommen. Und wie dieſelben Gegenſtaͤnde von den Verſchiedenen verſchieden verſtanden werden konnten, ſo kann es vorkommen und kommt vor im N. T. daß daſſelbe Wort von dem einen Schriftſteller ſo von dem andern anders gebraucht wird, ja derſelbe Schriftſteller konnte ſeine Schreibart aͤndern. Ein merkwuͤrdiges Beiſpiel der Differenz in dieſem Stuͤcke iſt der Widerſpruch zwiſchen Roͤm. 3, 28. und Jakob. 2, 20. Jakobus verband die beiden Begriffe διϰαιοσύνη und ἔϱγα, Paulus aber nicht, ohne daß jener die πίστις gaͤnzlich ausgeſchloſſen haͤtte. Der Widerſpruch iſt der zwiſchen dem gaͤnzlichen und nicht gaͤnzlichen Ausſchließen. Entweder dieſen Widerſpruch muͤſſen wir anneh- men, oder ſagen, beide haben demſelben Worte einen ganz ver- ſchiedenen Localwerth gegeben. Aber aus dem allen ergiebt ſich die Nothwendigkeit, nicht bei den Worten ſtehen zu bleiben, ſon- 8*

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/139>, abgerufen am 27.04.2024.