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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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disch. Hier tritt also ein verschiedener Werth hervor und in Be-
ziehung darauf folgende Regel: Je häufiger in gewissen Combi-
nationen ein Nebengedanke und sein Ausdruck vorkommt, desto
größer ist die Sicherheit und Leichtigkeit des Verständnisses; je
mehr aber diese wächst, nimmt der Werth der Ausdrücke ab. Des-
halb ist eine richtige Abschäzung des jedesmaligen Werthes noth-
wendig. -- Die obengegebene Regel für die Auffindung der Local-
werthe der Nebengedanken, nemlich zu vergleichen, wo dieselben
als Hauptgedanken vorkommen, wo sie ihren eigentlichen Ort ha-
ben, ist nur da anwendbar, wo die Nebengedanken in einer ge-
wissen Klarheit und leicht hervortreten, nicht aber da, wo sie an
der Grenze des klaren Bewußtseins stehen und ins Verworrene
hineinstreifen. In diesem lezteren Falle ist ein indirectes Verfah-
ren nothwendig. Man muß nemlich fragen, in welcher Richtung
hat wohl der beigebrachte Nebengedanke zur Wirkung des Ganzen
beitragen können? Hat man das gefunden so kann man die
obige Regel anwenden und sagen, aus dem oder jenem paralle-
len Complexus heraus hat der Verfasser den Nebengedanken mit
seinem Ausdruck herausgenommen und in dem bestimmten Sinn
gebraucht.

Dieß führt zu einer genaueren Betrachtung der für die her-
meneutische Operation so wichtigen Verwandtschaftsverhältnisse der
Begriffe und ihrer Bezeichnungen. Wir unterscheiden die sprach-
liche und die logische Verwandtschaft. Die erstere ist zwiefacher
Art einmal die zwischen Stammwörtern und abgeleiteten, sodann
die Collateralverwandtschaft zwischen den abgeleiteten Wörtern
desselbigen Stammes. Ist der Stamm sicher und die Ablei-
tungsform bekannt, so ist das Verfahren das eines Calcüls;
denn wir haben im Stamm das allen Gemeinsame, die Einheit,
und in den Ableitungsformen das Gesez der Differenzen. Läßt
sich der Stamm zu einer gegebenen Sippschaft nicht finden, es
sind aber abgeleitete Wörter eines anderen Stammwortes gege-
ben, dessen Sprachgebrauch ich dem fraglichen ähnlich weiß, so
kann ich auch diese als erläuternde Verwandtschaft gebrauchen.


diſch. Hier tritt alſo ein verſchiedener Werth hervor und in Be-
ziehung darauf folgende Regel: Je haͤufiger in gewiſſen Combi-
nationen ein Nebengedanke und ſein Ausdruck vorkommt, deſto
groͤßer iſt die Sicherheit und Leichtigkeit des Verſtaͤndniſſes; je
mehr aber dieſe waͤchſt, nimmt der Werth der Ausdruͤcke ab. Des-
halb iſt eine richtige Abſchaͤzung des jedesmaligen Werthes noth-
wendig. — Die obengegebene Regel fuͤr die Auffindung der Local-
werthe der Nebengedanken, nemlich zu vergleichen, wo dieſelben
als Hauptgedanken vorkommen, wo ſie ihren eigentlichen Ort ha-
ben, iſt nur da anwendbar, wo die Nebengedanken in einer ge-
wiſſen Klarheit und leicht hervortreten, nicht aber da, wo ſie an
der Grenze des klaren Bewußtſeins ſtehen und ins Verworrene
hineinſtreifen. In dieſem lezteren Falle iſt ein indirectes Verfah-
ren nothwendig. Man muß nemlich fragen, in welcher Richtung
hat wohl der beigebrachte Nebengedanke zur Wirkung des Ganzen
beitragen koͤnnen? Hat man das gefunden ſo kann man die
obige Regel anwenden und ſagen, aus dem oder jenem paralle-
len Complexus heraus hat der Verfaſſer den Nebengedanken mit
ſeinem Ausdruck herausgenommen und in dem beſtimmten Sinn
gebraucht.

Dieß fuͤhrt zu einer genaueren Betrachtung der fuͤr die her-
meneutiſche Operation ſo wichtigen Verwandtſchaftsverhaͤltniſſe der
Begriffe und ihrer Bezeichnungen. Wir unterſcheiden die ſprach-
liche und die logiſche Verwandtſchaft. Die erſtere iſt zwiefacher
Art einmal die zwiſchen Stammwoͤrtern und abgeleiteten, ſodann
die Collateralverwandtſchaft zwiſchen den abgeleiteten Woͤrtern
deſſelbigen Stammes. Iſt der Stamm ſicher und die Ablei-
tungsform bekannt, ſo iſt das Verfahren das eines Calcuͤls;
denn wir haben im Stamm das allen Gemeinſame, die Einheit,
und in den Ableitungsformen das Geſez der Differenzen. Laͤßt
ſich der Stamm zu einer gegebenen Sippſchaft nicht finden, es
ſind aber abgeleitete Woͤrter eines anderen Stammwortes gege-
ben, deſſen Sprachgebrauch ich dem fraglichen aͤhnlich weiß, ſo
kann ich auch dieſe als erlaͤuternde Verwandtſchaft gebrauchen.

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[101/0125] diſch. Hier tritt alſo ein verſchiedener Werth hervor und in Be- ziehung darauf folgende Regel: Je haͤufiger in gewiſſen Combi- nationen ein Nebengedanke und ſein Ausdruck vorkommt, deſto groͤßer iſt die Sicherheit und Leichtigkeit des Verſtaͤndniſſes; je mehr aber dieſe waͤchſt, nimmt der Werth der Ausdruͤcke ab. Des- halb iſt eine richtige Abſchaͤzung des jedesmaligen Werthes noth- wendig. — Die obengegebene Regel fuͤr die Auffindung der Local- werthe der Nebengedanken, nemlich zu vergleichen, wo dieſelben als Hauptgedanken vorkommen, wo ſie ihren eigentlichen Ort ha- ben, iſt nur da anwendbar, wo die Nebengedanken in einer ge- wiſſen Klarheit und leicht hervortreten, nicht aber da, wo ſie an der Grenze des klaren Bewußtſeins ſtehen und ins Verworrene hineinſtreifen. In dieſem lezteren Falle iſt ein indirectes Verfah- ren nothwendig. Man muß nemlich fragen, in welcher Richtung hat wohl der beigebrachte Nebengedanke zur Wirkung des Ganzen beitragen koͤnnen? Hat man das gefunden ſo kann man die obige Regel anwenden und ſagen, aus dem oder jenem paralle- len Complexus heraus hat der Verfaſſer den Nebengedanken mit ſeinem Ausdruck herausgenommen und in dem beſtimmten Sinn gebraucht. Dieß fuͤhrt zu einer genaueren Betrachtung der fuͤr die her- meneutiſche Operation ſo wichtigen Verwandtſchaftsverhaͤltniſſe der Begriffe und ihrer Bezeichnungen. Wir unterſcheiden die ſprach- liche und die logiſche Verwandtſchaft. Die erſtere iſt zwiefacher Art einmal die zwiſchen Stammwoͤrtern und abgeleiteten, ſodann die Collateralverwandtſchaft zwiſchen den abgeleiteten Woͤrtern deſſelbigen Stammes. Iſt der Stamm ſicher und die Ablei- tungsform bekannt, ſo iſt das Verfahren das eines Calcuͤls; denn wir haben im Stamm das allen Gemeinſame, die Einheit, und in den Ableitungsformen das Geſez der Differenzen. Laͤßt ſich der Stamm zu einer gegebenen Sippſchaft nicht finden, es ſind aber abgeleitete Woͤrter eines anderen Stammwortes gege- ben, deſſen Sprachgebrauch ich dem fraglichen aͤhnlich weiß, ſo kann ich auch dieſe als erlaͤuternde Verwandtſchaft gebrauchen.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/125>, abgerufen am 26.04.2024.