Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueber die Entstehung der Arten.
unrichtig ist, geht schon einfach daraus hervor, daß in der Natur jedes
Pferd eine gewisse Farbe haben muß, "das Pferd" als Begriff aber
keine Farbe haben darf, weil dann die anders gefärbten Pferde von dem
Begriffe Pferd durch das Merkmal der Farbe ausgeschlossen würden.

Es ist eine ganz bekannte Erscheinung, daß es stets nur einen ganz
kleinen Theil der Naturforscher giebt, die immer nur über einen ganz
kleinen Theil der Arten übereinstimmen; dies wurde denn der unzu¬
länglichen Erkenntniß der Natur zugeschrieben, statt anzuerkennen, daß
jeder Fortschritt in der Naturkenntniß nothwendig eine andere Bestim¬
mung der Arten zur Folge haben und da der Fortschritt ein unendlicher
ist, auch die Artbestimmung nothwendig eine veränderliche bleiben muß.
-- Von jenem letzten Ueberbleibsel des Realismus werden uns nun
hoffentlich die neueren naturwissenschaftlichen Forschungen befreien und
wiederum einen treffenden Beweis liefern, daß Philosophie und Natur¬
wissenschaft nur mit einander zur klaren Erkenntniß fortschreiten können.
Deshalb habe ich auch geglaubt mich bei diesem Punkte länger aufhal¬
ten zu müssen. Der Artbegriff scheint noch Vielen das eigentliche Fun¬
dament aller Naturwissenschaft zu sein und es ist daher eine richtige
Vorstellung von demselben eine außerordentlich wichtige Sache. --

Der Mensch hängt in seiner Erkenntniß der Natur von der Zeit
ab und für die unendliche Zeit ist nicht nur die Lebensdauer des Ein¬
zelnen, sondern selbst der Zeitraum von ein Paar Jahrtausenden, bis
zu welchen seine feste Geschichte zurückreicht, kein brauchbarer Maa߬
stab. Eine Veränderung in der Natur, die so langsam vor sich geht,
daß die ersten erkennbaren Zeichen dieser Veränderung erst nach Zehn¬
tausenden von Jahren erkennbar ihm entgegentreten können, entgeht
natürlich der unmittelbaren Beobachtung und der Gegenstand stellt sich
ihm als unveränderlich dar, gerade wie uns der Stundenzeiger einer
Taschenuhr, die wir nur Secunden lang beobachten, vollkommen stille
zu stehen scheint. Daher kam es, daß sich die Menschen die Arten in
der Pflanzen- und Thierwelt, so lange die Kenntniß derselben noch
räumlich und zeitlich beschränkt war, als feststehend dachten und ihre

Ueber die Entſtehung der Arten.
unrichtig iſt, geht ſchon einfach daraus hervor, daß in der Natur jedes
Pferd eine gewiſſe Farbe haben muß, „das Pferd“ als Begriff aber
keine Farbe haben darf, weil dann die anders gefärbten Pferde von dem
Begriffe Pferd durch das Merkmal der Farbe ausgeſchloſſen würden.

Es iſt eine ganz bekannte Erſcheinung, daß es ſtets nur einen ganz
kleinen Theil der Naturforſcher giebt, die immer nur über einen ganz
kleinen Theil der Arten übereinſtimmen; dies wurde denn der unzu¬
länglichen Erkenntniß der Natur zugeſchrieben, ſtatt anzuerkennen, daß
jeder Fortſchritt in der Naturkenntniß nothwendig eine andere Beſtim¬
mung der Arten zur Folge haben und da der Fortſchritt ein unendlicher
iſt, auch die Artbeſtimmung nothwendig eine veränderliche bleiben muß.
— Von jenem letzten Ueberbleibſel des Realismus werden uns nun
hoffentlich die neueren naturwiſſenſchaftlichen Forſchungen befreien und
wiederum einen treffenden Beweis liefern, daß Philoſophie und Natur¬
wiſſenſchaft nur mit einander zur klaren Erkenntniß fortſchreiten können.
Deshalb habe ich auch geglaubt mich bei dieſem Punkte länger aufhal¬
ten zu müſſen. Der Artbegriff ſcheint noch Vielen das eigentliche Fun¬
dament aller Naturwiſſenſchaft zu ſein und es iſt daher eine richtige
Vorſtellung von demſelben eine außerordentlich wichtige Sache. —

Der Menſch hängt in ſeiner Erkenntniß der Natur von der Zeit
ab und für die unendliche Zeit iſt nicht nur die Lebensdauer des Ein¬
zelnen, ſondern ſelbſt der Zeitraum von ein Paar Jahrtauſenden, bis
zu welchen ſeine feſte Geſchichte zurückreicht, kein brauchbarer Maa߬
ſtab. Eine Veränderung in der Natur, die ſo langſam vor ſich geht,
daß die erſten erkennbaren Zeichen dieſer Veränderung erſt nach Zehn¬
tauſenden von Jahren erkennbar ihm entgegentreten können, entgeht
natürlich der unmittelbaren Beobachtung und der Gegenſtand ſtellt ſich
ihm als unveränderlich dar, gerade wie uns der Stundenzeiger einer
Taſchenuhr, die wir nur Secunden lang beobachten, vollkommen ſtille
zu ſtehen ſcheint. Daher kam es, daß ſich die Menſchen die Arten in
der Pflanzen- und Thierwelt, ſo lange die Kenntniß derſelben noch
räumlich und zeitlich beſchränkt war, als feſtſtehend dachten und ihre

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0047" n="37"/><fw place="top" type="header">Ueber die Ent&#x017F;tehung der Arten.<lb/></fw>unrichtig i&#x017F;t, geht &#x017F;chon einfach daraus hervor, daß in der Natur jedes<lb/>
Pferd eine gewi&#x017F;&#x017F;e Farbe haben muß, &#x201E;das Pferd&#x201C; als Begriff aber<lb/>
keine Farbe haben darf, weil dann die anders gefärbten Pferde von dem<lb/>
Begriffe Pferd durch das Merkmal der Farbe ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en würden.</p><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t eine ganz bekannte Er&#x017F;cheinung, daß es &#x017F;tets nur einen ganz<lb/>
kleinen Theil der Naturfor&#x017F;cher giebt, die immer nur über einen ganz<lb/>
kleinen Theil der Arten überein&#x017F;timmen; dies wurde denn der unzu¬<lb/>
länglichen Erkenntniß der Natur zuge&#x017F;chrieben, &#x017F;tatt anzuerkennen, daß<lb/>
jeder Fort&#x017F;chritt in der Naturkenntniß nothwendig eine andere Be&#x017F;tim¬<lb/>
mung der Arten zur Folge haben und da der Fort&#x017F;chritt ein unendlicher<lb/>
i&#x017F;t, auch die Artbe&#x017F;timmung nothwendig eine veränderliche bleiben muß.<lb/>
&#x2014; Von jenem letzten Ueberbleib&#x017F;el des Realismus werden uns nun<lb/>
hoffentlich die neueren naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen For&#x017F;chungen befreien und<lb/>
wiederum einen treffenden Beweis liefern, daß Philo&#x017F;ophie und Natur¬<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nur mit einander zur klaren Erkenntniß fort&#x017F;chreiten können.<lb/>
Deshalb habe ich auch geglaubt mich bei die&#x017F;em Punkte länger aufhal¬<lb/>
ten zu mü&#x017F;&#x017F;en. Der Artbegriff &#x017F;cheint noch Vielen das eigentliche Fun¬<lb/>
dament aller Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft zu &#x017F;ein und es i&#x017F;t daher eine richtige<lb/>
Vor&#x017F;tellung von dem&#x017F;elben eine außerordentlich wichtige Sache. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Der Men&#x017F;ch hängt in &#x017F;einer Erkenntniß der Natur von der Zeit<lb/>
ab und für die unendliche Zeit i&#x017F;t nicht nur die Lebensdauer des Ein¬<lb/>
zelnen, &#x017F;ondern &#x017F;elb&#x017F;t der Zeitraum von ein Paar Jahrtau&#x017F;enden, bis<lb/>
zu welchen &#x017F;eine fe&#x017F;te Ge&#x017F;chichte zurückreicht, kein brauchbarer Maa߬<lb/>
&#x017F;tab. Eine Veränderung in der Natur, die &#x017F;o lang&#x017F;am vor &#x017F;ich geht,<lb/>
daß die er&#x017F;ten erkennbaren Zeichen die&#x017F;er Veränderung er&#x017F;t nach Zehn¬<lb/>
tau&#x017F;enden von Jahren erkennbar ihm entgegentreten können, entgeht<lb/>
natürlich der unmittelbaren Beobachtung und der Gegen&#x017F;tand &#x017F;tellt &#x017F;ich<lb/>
ihm als unveränderlich dar, gerade wie uns der Stundenzeiger einer<lb/>
Ta&#x017F;chenuhr, die wir nur Secunden lang beobachten, vollkommen &#x017F;tille<lb/>
zu &#x017F;tehen &#x017F;cheint. Daher kam es, daß &#x017F;ich die Men&#x017F;chen die Arten in<lb/>
der Pflanzen- und Thierwelt, &#x017F;o lange die Kenntniß der&#x017F;elben noch<lb/>
räumlich und zeitlich be&#x017F;chränkt war, als fe&#x017F;t&#x017F;tehend dachten und ihre<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[37/0047] Ueber die Entſtehung der Arten. unrichtig iſt, geht ſchon einfach daraus hervor, daß in der Natur jedes Pferd eine gewiſſe Farbe haben muß, „das Pferd“ als Begriff aber keine Farbe haben darf, weil dann die anders gefärbten Pferde von dem Begriffe Pferd durch das Merkmal der Farbe ausgeſchloſſen würden. Es iſt eine ganz bekannte Erſcheinung, daß es ſtets nur einen ganz kleinen Theil der Naturforſcher giebt, die immer nur über einen ganz kleinen Theil der Arten übereinſtimmen; dies wurde denn der unzu¬ länglichen Erkenntniß der Natur zugeſchrieben, ſtatt anzuerkennen, daß jeder Fortſchritt in der Naturkenntniß nothwendig eine andere Beſtim¬ mung der Arten zur Folge haben und da der Fortſchritt ein unendlicher iſt, auch die Artbeſtimmung nothwendig eine veränderliche bleiben muß. — Von jenem letzten Ueberbleibſel des Realismus werden uns nun hoffentlich die neueren naturwiſſenſchaftlichen Forſchungen befreien und wiederum einen treffenden Beweis liefern, daß Philoſophie und Natur¬ wiſſenſchaft nur mit einander zur klaren Erkenntniß fortſchreiten können. Deshalb habe ich auch geglaubt mich bei dieſem Punkte länger aufhal¬ ten zu müſſen. Der Artbegriff ſcheint noch Vielen das eigentliche Fun¬ dament aller Naturwiſſenſchaft zu ſein und es iſt daher eine richtige Vorſtellung von demſelben eine außerordentlich wichtige Sache. — Der Menſch hängt in ſeiner Erkenntniß der Natur von der Zeit ab und für die unendliche Zeit iſt nicht nur die Lebensdauer des Ein¬ zelnen, ſondern ſelbſt der Zeitraum von ein Paar Jahrtauſenden, bis zu welchen ſeine feſte Geſchichte zurückreicht, kein brauchbarer Maa߬ ſtab. Eine Veränderung in der Natur, die ſo langſam vor ſich geht, daß die erſten erkennbaren Zeichen dieſer Veränderung erſt nach Zehn¬ tauſenden von Jahren erkennbar ihm entgegentreten können, entgeht natürlich der unmittelbaren Beobachtung und der Gegenſtand ſtellt ſich ihm als unveränderlich dar, gerade wie uns der Stundenzeiger einer Taſchenuhr, die wir nur Secunden lang beobachten, vollkommen ſtille zu ſtehen ſcheint. Daher kam es, daß ſich die Menſchen die Arten in der Pflanzen- und Thierwelt, ſo lange die Kenntniß derſelben noch räumlich und zeitlich beſchränkt war, als feſtſtehend dachten und ihre

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/47
Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/47>, abgerufen am 26.04.2024.