Intriguen der Dame, die ihn ver- strickt hatte, und sein Gefühl mußte laut entscheiden, daß jene sittlicher und weiblicher sey: denn diese Co- quette gab nie eine kleine oder große Gunst ohne Nebenabsicht; und doch ward sie von aller Welt geachtet und bewundert, wie so viele andre, die ihr gleichen. Darüber wider- setzte sich sein Verstand mit Heftig- keit allen falschen und allen wahren Meinungen, die man über die weib- liche Tugend hat. Es ward Grund- satz bey ihm, die gesellschaftlichen Vorurtheile, welche er bisher nur vernachlässigte, nun ausdrücklich zu verachten. Er gedachte an die zarte Louise, die beynah ein Raub seiner Verführung geworden wäre und er
Intriguen der Dame, die ihn ver- ſtrickt hatte, und ſein Gefühl mußte laut entſcheiden, daß jene ſittlicher und weiblicher ſey: denn dieſe Co- quette gab nie eine kleine oder große Gunſt ohne Nebenabſicht; und doch ward ſie von aller Welt geachtet und bewundert, wie ſo viele andre, die ihr gleichen. Darüber wider- ſetzte ſich ſein Verſtand mit Heftig- keit allen falſchen und allen wahren Meinungen, die man über die weib- liche Tugend hat. Es ward Grund- ſatz bey ihm, die geſellſchaftlichen Vorurtheile, welche er bisher nur vernachläſſigte, nun ausdrücklich zu verachten. Er gedachte an die zarte Louiſe, die beynah ein Raub ſeiner Verführung geworden wäre und er
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Intriguen der Dame, die ihn ver-
ſtrickt hatte, und ſein Gefühl mußte
laut entſcheiden, daß jene ſittlicher
und weiblicher ſey: denn dieſe Co-
quette gab nie eine kleine oder große
Gunſt ohne Nebenabſicht; und doch
ward ſie von aller Welt geachtet
und bewundert, wie ſo viele andre,
die ihr gleichen. Darüber wider-
ſetzte ſich ſein Verſtand mit Heftig-
keit allen falſchen und allen wahren
Meinungen, die man über die weib-
liche Tugend hat. Es ward Grund-
ſatz bey ihm, die geſellſchaftlichen
Vorurtheile, welche er bisher nur
vernachläſſigte, nun ausdrücklich zu
verachten. Er gedachte an die zarte
Louiſe, die beynah ein Raub ſeiner
Verführung geworden wäre und er
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Schlegel, Friedrich von: Lucinde. Berlin, 1799, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_lucinde_1799/161>, abgerufen am 26.04.2024.
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