Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Ueber naive
sich an allem, wovon er Kundschaft hat, und wornach er
ein Bedürfniß empfindet -- was bekümmern ihn Güter,
von denen er keine Ahnung und an die er keinen Glauben
hat? Genug für ihn, er ist im Besitze, die Erde ist sein,
und es ist Licht in seinem Verstande, und Zufriedenheit
wohnt in seiner Brust. Der Idealist hat lange kein so
gutes Schicksal. Nicht genug, daß er oft mit dem Glücke
zerfällt, weil er versäumte, den Moment zu seinem
Freunde zu machen, er zerfällt auch mit sich selbst, weder
sein Wissen, noch sein Handeln kann ihm Genüge thun.
Was er von sich fodert, ist ein Unendliches, aber be-
schränkt ist alles, was er leistet. Diese Strenge, die er
gegen sich selbst beweißt, verläugnet er auch nicht in sei-
nem Betragen gegen andre. Er ist zwar großmüthig,
weil er sich Andern gegenüber, seines Individuums we-
niger erinnert, aber er ist öfters unbillig, weil er das
Individuum eben so leicht in andern übersieht. Der Rea-
list hingegen ist weniger großmüthig, aber er ist billiger,
da er alle Dinge mehr in ihrer Begrenzung beur-
theilt. Das Gemeine, ja selbst das Niedrige im Denken
und Handeln kann er verzeyhen, nur das Willkührliche,
das Eccentrische nicht; der Idealist hingegen ist ein ge-
schworner Feind alles Kleinlichen und Platten, und wird
sich selbst mit dem Extravaganten und Ungeheuren ver-
söhnen, wenn es nur von einem großen Vermögen zeugt.
Jener beweißt sich als Menschenfreund, ohne eben einen
sehr hohen Begriff von den Menschen und der Menschheit
zu haben; dieser denkt von der Menschheit so groß, daß

VII. Ueber naive
ſich an allem, wovon er Kundſchaft hat, und wornach er
ein Beduͤrfniß empfindet — was bekuͤmmern ihn Guͤter,
von denen er keine Ahnung und an die er keinen Glauben
hat? Genug fuͤr ihn, er iſt im Beſitze, die Erde iſt ſein,
und es iſt Licht in ſeinem Verſtande, und Zufriedenheit
wohnt in ſeiner Bruſt. Der Idealiſt hat lange kein ſo
gutes Schickſal. Nicht genug, daß er oft mit dem Gluͤcke
zerfaͤllt, weil er verſaͤumte, den Moment zu ſeinem
Freunde zu machen, er zerfaͤllt auch mit ſich ſelbſt, weder
ſein Wiſſen, noch ſein Handeln kann ihm Genuͤge thun.
Was er von ſich fodert, iſt ein Unendliches, aber be-
ſchraͤnkt iſt alles, was er leiſtet. Dieſe Strenge, die er
gegen ſich ſelbſt beweißt, verlaͤugnet er auch nicht in ſei-
nem Betragen gegen andre. Er iſt zwar großmuͤthig,
weil er ſich Andern gegenuͤber, ſeines Individuums we-
niger erinnert, aber er iſt oͤfters unbillig, weil er das
Individuum eben ſo leicht in andern uͤberſieht. Der Rea-
liſt hingegen iſt weniger großmuͤthig, aber er iſt billiger,
da er alle Dinge mehr in ihrer Begrenzung beur-
theilt. Das Gemeine, ja ſelbſt das Niedrige im Denken
und Handeln kann er verzeyhen, nur das Willkuͤhrliche,
das Eccentriſche nicht; der Idealiſt hingegen iſt ein ge-
ſchworner Feind alles Kleinlichen und Platten, und wird
ſich ſelbſt mit dem Extravaganten und Ungeheuren ver-
ſoͤhnen, wenn es nur von einem großen Vermoͤgen zeugt.
Jener beweißt ſich als Menſchenfreund, ohne eben einen
ſehr hohen Begriff von den Menſchen und der Menſchheit
zu haben; dieſer denkt von der Menſchheit ſo groß, daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0049" n="114"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VII.</hi><hi rendition="#g">Ueber naive</hi></fw><lb/>
&#x017F;ich an allem, wovon er Kund&#x017F;chaft hat, und wornach er<lb/>
ein Bedu&#x0364;rfniß empfindet &#x2014; was beku&#x0364;mmern ihn Gu&#x0364;ter,<lb/>
von denen er keine Ahnung und an die er keinen Glauben<lb/>
hat? Genug fu&#x0364;r ihn, er i&#x017F;t im Be&#x017F;itze, die Erde i&#x017F;t &#x017F;ein,<lb/>
und es i&#x017F;t Licht in &#x017F;einem Ver&#x017F;tande, und Zufriedenheit<lb/>
wohnt in &#x017F;einer Bru&#x017F;t. Der Ideali&#x017F;t hat lange kein &#x017F;o<lb/>
gutes Schick&#x017F;al. Nicht genug, daß er oft mit dem Glu&#x0364;cke<lb/>
zerfa&#x0364;llt, weil er ver&#x017F;a&#x0364;umte, den Moment zu &#x017F;einem<lb/>
Freunde zu machen, er zerfa&#x0364;llt auch mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, weder<lb/>
&#x017F;ein Wi&#x017F;&#x017F;en, noch &#x017F;ein Handeln kann ihm Genu&#x0364;ge thun.<lb/>
Was er von &#x017F;ich fodert, i&#x017F;t ein Unendliches, aber be-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkt i&#x017F;t alles, was er lei&#x017F;tet. Die&#x017F;e Strenge, die er<lb/>
gegen &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t beweißt, verla&#x0364;ugnet er auch nicht in &#x017F;ei-<lb/>
nem Betragen gegen andre. Er i&#x017F;t zwar großmu&#x0364;thig,<lb/>
weil er &#x017F;ich Andern gegenu&#x0364;ber, &#x017F;eines Individuums we-<lb/>
niger erinnert, aber er i&#x017F;t o&#x0364;fters unbillig, weil er das<lb/>
Individuum eben &#x017F;o leicht in andern u&#x0364;ber&#x017F;ieht. Der Rea-<lb/>
li&#x017F;t hingegen i&#x017F;t weniger großmu&#x0364;thig, aber er i&#x017F;t billiger,<lb/>
da er alle Dinge mehr <hi rendition="#g">in ihrer Begrenzung</hi> beur-<lb/>
theilt. Das Gemeine, ja &#x017F;elb&#x017F;t das Niedrige im Denken<lb/>
und Handeln kann er verzeyhen, nur das Willku&#x0364;hrliche,<lb/>
das Eccentri&#x017F;che nicht; der Ideali&#x017F;t hingegen i&#x017F;t ein ge-<lb/>
&#x017F;chworner Feind alles Kleinlichen und Platten, und wird<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t mit dem Extravaganten und Ungeheuren ver-<lb/>
&#x017F;o&#x0364;hnen, wenn es nur von einem großen Vermo&#x0364;gen zeugt.<lb/>
Jener beweißt &#x017F;ich als Men&#x017F;chenfreund, ohne eben einen<lb/>
&#x017F;ehr hohen Begriff von den Men&#x017F;chen und der Men&#x017F;chheit<lb/>
zu haben; die&#x017F;er denkt von der Men&#x017F;chheit &#x017F;o groß, daß<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[114/0049] VII. Ueber naive ſich an allem, wovon er Kundſchaft hat, und wornach er ein Beduͤrfniß empfindet — was bekuͤmmern ihn Guͤter, von denen er keine Ahnung und an die er keinen Glauben hat? Genug fuͤr ihn, er iſt im Beſitze, die Erde iſt ſein, und es iſt Licht in ſeinem Verſtande, und Zufriedenheit wohnt in ſeiner Bruſt. Der Idealiſt hat lange kein ſo gutes Schickſal. Nicht genug, daß er oft mit dem Gluͤcke zerfaͤllt, weil er verſaͤumte, den Moment zu ſeinem Freunde zu machen, er zerfaͤllt auch mit ſich ſelbſt, weder ſein Wiſſen, noch ſein Handeln kann ihm Genuͤge thun. Was er von ſich fodert, iſt ein Unendliches, aber be- ſchraͤnkt iſt alles, was er leiſtet. Dieſe Strenge, die er gegen ſich ſelbſt beweißt, verlaͤugnet er auch nicht in ſei- nem Betragen gegen andre. Er iſt zwar großmuͤthig, weil er ſich Andern gegenuͤber, ſeines Individuums we- niger erinnert, aber er iſt oͤfters unbillig, weil er das Individuum eben ſo leicht in andern uͤberſieht. Der Rea- liſt hingegen iſt weniger großmuͤthig, aber er iſt billiger, da er alle Dinge mehr in ihrer Begrenzung beur- theilt. Das Gemeine, ja ſelbſt das Niedrige im Denken und Handeln kann er verzeyhen, nur das Willkuͤhrliche, das Eccentriſche nicht; der Idealiſt hingegen iſt ein ge- ſchworner Feind alles Kleinlichen und Platten, und wird ſich ſelbſt mit dem Extravaganten und Ungeheuren ver- ſoͤhnen, wenn es nur von einem großen Vermoͤgen zeugt. Jener beweißt ſich als Menſchenfreund, ohne eben einen ſehr hohen Begriff von den Menſchen und der Menſchheit zu haben; dieſer denkt von der Menſchheit ſo groß, daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/49
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/49>, abgerufen am 26.04.2024.