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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.

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und sentimentalische Dichter.
nen Gesetzgebung vorzeichnet darf sich also der Dichter
eben so wenig als jenes niedrige Ideal der Erhohlung,
welches die Sinnlichkeit aufstellt, zum Zwecke setzen, da
er die Menschheit zwar von allen zufälligen Schranken
befreyen soll, aber ohne ihren Begriff aufzuheben und
ihre nothwendigen Grenzen zu verrücken. Was er über
diese Linien hinaus sich erlaubt, ist Ueberspannung, und
zu dieser eben wird er nur allzuleicht durch einen falsch
verstandenen Begriff von Veredlung verleitet. Aber das
schlimme ist, daß er sich selbst zu dem wahren Ideal
menschlicher Veredlung nicht wohl erheben kann, ohne
noch einige Schritte über dasselbe hinaus zu gerathen. Um
nehmlich dahin zu gelangen, muß er die Wirklichkeit ver-
lassen, denn er kann es, wie jedes Ideal, nur aus in-
nern und moralischen Quellen schöpfen. Nicht in der
Welt die ihn umgiebt und im Geräusch des handelnden
Lebens, in seinem Herzen nur trift er es an, und nur
in der Stille einsamer Betrachtung findet er sein Herz.
Aber diese Abgezogenheit vom Leben wird nicht immer
bloß die zufälligen -- sie wird öfters auch die nothwen-
digen und unüberwindlichen Schranken der Menschheit
aus seinen Augen rücken, und indem er die reine Form
sucht, wird er in Gefahr seyn, allen Gehalt zu verlieren.
Die Vernunft wird ihr Geschäft viel zu abgesondert von
der Erfahrung treiben, und was der contemplative Geist
auf dem ruhigen Wege des Denkens aufgefunden, wird
der handelnde Mensch auf dem drangvollen Wege des Le-
bens nicht in Erfüllung bringen können. So bringt ge-

und ſentimentaliſche Dichter.
nen Geſetzgebung vorzeichnet darf ſich alſo der Dichter
eben ſo wenig als jenes niedrige Ideal der Erhohlung,
welches die Sinnlichkeit aufſtellt, zum Zwecke ſetzen, da
er die Menſchheit zwar von allen zufaͤlligen Schranken
befreyen ſoll, aber ohne ihren Begriff aufzuheben und
ihre nothwendigen Grenzen zu verruͤcken. Was er uͤber
dieſe Linien hinaus ſich erlaubt, iſt Ueberſpannung, und
zu dieſer eben wird er nur allzuleicht durch einen falſch
verſtandenen Begriff von Veredlung verleitet. Aber das
ſchlimme iſt, daß er ſich ſelbſt zu dem wahren Ideal
menſchlicher Veredlung nicht wohl erheben kann, ohne
noch einige Schritte uͤber daſſelbe hinaus zu gerathen. Um
nehmlich dahin zu gelangen, muß er die Wirklichkeit ver-
laſſen, denn er kann es, wie jedes Ideal, nur aus in-
nern und moraliſchen Quellen ſchoͤpfen. Nicht in der
Welt die ihn umgiebt und im Geraͤuſch des handelnden
Lebens, in ſeinem Herzen nur trift er es an, und nur
in der Stille einſamer Betrachtung findet er ſein Herz.
Aber dieſe Abgezogenheit vom Leben wird nicht immer
bloß die zufaͤlligen — ſie wird oͤfters auch die nothwen-
digen und unuͤberwindlichen Schranken der Menſchheit
aus ſeinen Augen ruͤcken, und indem er die reine Form
ſucht, wird er in Gefahr ſeyn, allen Gehalt zu verlieren.
Die Vernunft wird ihr Geſchaͤft viel zu abgeſondert von
der Erfahrung treiben, und was der contemplative Geiſt
auf dem ruhigen Wege des Denkens aufgefunden, wird
der handelnde Menſch auf dem drangvollen Wege des Le-
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[101/0036] und ſentimentaliſche Dichter. nen Geſetzgebung vorzeichnet darf ſich alſo der Dichter eben ſo wenig als jenes niedrige Ideal der Erhohlung, welches die Sinnlichkeit aufſtellt, zum Zwecke ſetzen, da er die Menſchheit zwar von allen zufaͤlligen Schranken befreyen ſoll, aber ohne ihren Begriff aufzuheben und ihre nothwendigen Grenzen zu verruͤcken. Was er uͤber dieſe Linien hinaus ſich erlaubt, iſt Ueberſpannung, und zu dieſer eben wird er nur allzuleicht durch einen falſch verſtandenen Begriff von Veredlung verleitet. Aber das ſchlimme iſt, daß er ſich ſelbſt zu dem wahren Ideal menſchlicher Veredlung nicht wohl erheben kann, ohne noch einige Schritte uͤber daſſelbe hinaus zu gerathen. Um nehmlich dahin zu gelangen, muß er die Wirklichkeit ver- laſſen, denn er kann es, wie jedes Ideal, nur aus in- nern und moraliſchen Quellen ſchoͤpfen. Nicht in der Welt die ihn umgiebt und im Geraͤuſch des handelnden Lebens, in ſeinem Herzen nur trift er es an, und nur in der Stille einſamer Betrachtung findet er ſein Herz. Aber dieſe Abgezogenheit vom Leben wird nicht immer bloß die zufaͤlligen — ſie wird oͤfters auch die nothwen- digen und unuͤberwindlichen Schranken der Menſchheit aus ſeinen Augen ruͤcken, und indem er die reine Form ſucht, wird er in Gefahr ſeyn, allen Gehalt zu verlieren. Die Vernunft wird ihr Geſchaͤft viel zu abgeſondert von der Erfahrung treiben, und was der contemplative Geiſt auf dem ruhigen Wege des Denkens aufgefunden, wird der handelnde Menſch auf dem drangvollen Wege des Le- bens nicht in Erfuͤllung bringen koͤnnen. So bringt ge-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/36>, abgerufen am 26.04.2024.