Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.III Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. (Fortsetzung der im vorigen Stück angefangenen Briefe.) Zehenter Brief. Sie sind also mit mir darinn einig, und durch den Innhalt meiner vorigen Briefe überzeugt, daß sich der Mensch auf zwey entgegen gesetzten Wegen von seiner Bestimmung entfernen könne, daß unser Zeitalter wirklich auf beyden Abwegen wandle, und hier der Rohigkeit, dort der Erschlaffung und Verkehrtheit zum Raub geworden sey. Von dieser doppelten Verwirrung soll es durch die Schönheit zurückgeführt werden. Wie kann aber die schöne Kultur beyden entgegen gesetzten Gebrechen zugleich begegnen, und zwey widersprechende Eigenschaften in sich vereinigen? Kann sie in dem Wilden die Natur in Fesseln legen und in dem Barbaren dieselbe in Freyheit setzen? Kann sie zugleich anspannen und erschlaffen - und wenn sie nicht wirklich beydes leistet, wie kann ein so grosser Effekt, als die Ausbildung der Menschheit ist, vernünftiger weise von ihr erwartet werden? Zwar hat man schon zum Ueberdruß die Behauptung hören müssen, daß das entwickelte Gefühl für Schönheit die Sitten verfeinere, so daß es hiezu keines neuen Beweises mehr zu bedürfen scheint. Man stützt sich auf die alltägliche Erfahrung, welche fast durchgängig mit einem III Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. (Fortsetzung der im vorigen Stück angefangenen Briefe.) Zehenter Brief. Sie sind also mit mir darinn einig, und durch den Innhalt meiner vorigen Briefe überzeugt, daß sich der Mensch auf zwey entgegen gesetzten Wegen von seiner Bestimmung entfernen könne, daß unser Zeitalter wirklich auf beyden Abwegen wandle, und hier der Rohigkeit, dort der Erschlaffung und Verkehrtheit zum Raub geworden sey. Von dieser doppelten Verwirrung soll es durch die Schönheit zurückgeführt werden. Wie kann aber die schöne Kultur beyden entgegen gesetzten Gebrechen zugleich begegnen, und zwey widersprechende Eigenschaften in sich vereinigen? Kann sie in dem Wilden die Natur in Fesseln legen und in dem Barbaren dieselbe in Freyheit setzen? Kann sie zugleich anspannen und erschlaffen – und wenn sie nicht wirklich beydes leistet, wie kann ein so grosser Effekt, als die Ausbildung der Menschheit ist, vernünftiger weise von ihr erwartet werden? Zwar hat man schon zum Ueberdruß die Behauptung hören müssen, daß das entwickelte Gefühl für Schönheit die Sitten verfeinere, so daß es hiezu keines neuen Beweises mehr zu bedürfen scheint. Man stützt sich auf die alltägliche Erfahrung, welche fast durchgängig mit einem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0001" n="51"/> <head>III<lb/> Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen.</head> <argument> <p>(Fortsetzung der im vorigen Stück angefangenen Briefe.)</p> </argument> <div n="2"> <head> <hi rendition="#g">Zehenter Brief.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">S</hi>ie sind also mit mir darinn einig, und durch den Innhalt meiner vorigen Briefe überzeugt, daß sich der Mensch auf zwey entgegen gesetzten Wegen von seiner Bestimmung entfernen könne, daß unser Zeitalter wirklich auf beyden Abwegen wandle, und hier der Rohigkeit, dort der Erschlaffung und Verkehrtheit zum Raub geworden sey. Von dieser doppelten Verwirrung soll es durch die Schönheit zurückgeführt werden. Wie kann aber die schöne Kultur beyden entgegen gesetzten Gebrechen zugleich begegnen, und zwey widersprechende Eigenschaften in sich vereinigen? Kann sie in dem Wilden die Natur in Fesseln legen und in dem Barbaren dieselbe in Freyheit setzen? Kann sie zugleich anspannen und erschlaffen – und wenn sie nicht wirklich beydes leistet, wie kann ein so grosser Effekt, als die Ausbildung der Menschheit ist, vernünftiger weise von ihr erwartet werden?</p> <p>Zwar hat man schon zum Ueberdruß die Behauptung hören müssen, daß das entwickelte Gefühl für Schönheit die Sitten verfeinere, so daß es hiezu keines neuen Beweises mehr zu bedürfen scheint. Man stützt sich auf die alltägliche Erfahrung, welche fast durchgängig mit einem </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [51/0001]
III
Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. (Fortsetzung der im vorigen Stück angefangenen Briefe.)
Zehenter Brief.
Sie sind also mit mir darinn einig, und durch den Innhalt meiner vorigen Briefe überzeugt, daß sich der Mensch auf zwey entgegen gesetzten Wegen von seiner Bestimmung entfernen könne, daß unser Zeitalter wirklich auf beyden Abwegen wandle, und hier der Rohigkeit, dort der Erschlaffung und Verkehrtheit zum Raub geworden sey. Von dieser doppelten Verwirrung soll es durch die Schönheit zurückgeführt werden. Wie kann aber die schöne Kultur beyden entgegen gesetzten Gebrechen zugleich begegnen, und zwey widersprechende Eigenschaften in sich vereinigen? Kann sie in dem Wilden die Natur in Fesseln legen und in dem Barbaren dieselbe in Freyheit setzen? Kann sie zugleich anspannen und erschlaffen – und wenn sie nicht wirklich beydes leistet, wie kann ein so grosser Effekt, als die Ausbildung der Menschheit ist, vernünftiger weise von ihr erwartet werden?
Zwar hat man schon zum Ueberdruß die Behauptung hören müssen, daß das entwickelte Gefühl für Schönheit die Sitten verfeinere, so daß es hiezu keines neuen Beweises mehr zu bedürfen scheint. Man stützt sich auf die alltägliche Erfahrung, welche fast durchgängig mit einem
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/1>, abgerufen am 16.07.2024. |