Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
dasselbe durch die sittliche Kraft und Gesundheit des Volkes
überwunden und verarbeitet werden; gelingt diese Verar-
beitung nicht, so wird ein krankhafter Zustand daraus
hervorgehen. Auf diese Weise erklärt es sich, wie das,
was ursprünglich Gewalt und Unrecht war, allmälig
durch die dem Rechtszustand inwohnende Anziehungskraft
dergestalt umgebildet werden kann, daß es in denselben
als neuer, rechtmäßiger Bestandtheil übergeht. Ganz ver-
werflich aber, ja abentheuerlich ist es, wenn man versucht
hat, solche störende und die sittliche Kraft prüfende Ano-
malien als die wahre Entstehung der Staaten darzustel-
len, und darin die einzig mögliche Rettung zu suchen vor
der gefährlichen Lehre, welche die Staaten durch den will-
kührlichen Vertrag ihrer einzelnen Mitglieder entstehen
läßt (a). Bey diesem Rettungsversuch ist es schwer zu
sagen, welches von beiden bedenklicher ist, die Krankheit
oder das Heilmittel.

§. 11.
Völkerrecht.

Betrachten wir weiter das Verhältniß mehrerer neben
einander bestehender Völker und Staaten, so erscheint uns
dasselbe zunächst ähnlich dem Verhältniß einzelner Men-
schen, die durch Zufall zusammen geführt werden, ohne
durch Volksgemeinschaft verbunden zu seyn. Ist Jeder
derselben ein wohlgesinnter und gebildeter Mensch, so
werden sie das Rechtsbewußtseyn, welches Jedem aus

(a) Haller Restauration der Staatswissenschaft.

Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
daſſelbe durch die ſittliche Kraft und Geſundheit des Volkes
überwunden und verarbeitet werden; gelingt dieſe Verar-
beitung nicht, ſo wird ein krankhafter Zuſtand daraus
hervorgehen. Auf dieſe Weiſe erklärt es ſich, wie das,
was urſprünglich Gewalt und Unrecht war, allmälig
durch die dem Rechtszuſtand inwohnende Anziehungskraft
dergeſtalt umgebildet werden kann, daß es in denſelben
als neuer, rechtmäßiger Beſtandtheil übergeht. Ganz ver-
werflich aber, ja abentheuerlich iſt es, wenn man verſucht
hat, ſolche ſtörende und die ſittliche Kraft prüfende Ano-
malien als die wahre Entſtehung der Staaten darzuſtel-
len, und darin die einzig mögliche Rettung zu ſuchen vor
der gefährlichen Lehre, welche die Staaten durch den will-
kührlichen Vertrag ihrer einzelnen Mitglieder entſtehen
läßt (a). Bey dieſem Rettungsverſuch iſt es ſchwer zu
ſagen, welches von beiden bedenklicher iſt, die Krankheit
oder das Heilmittel.

§. 11.
Völkerrecht.

Betrachten wir weiter das Verhältniß mehrerer neben
einander beſtehender Völker und Staaten, ſo erſcheint uns
daſſelbe zunächſt ähnlich dem Verhältniß einzelner Men-
ſchen, die durch Zufall zuſammen geführt werden, ohne
durch Volksgemeinſchaft verbunden zu ſeyn. Iſt Jeder
derſelben ein wohlgeſinnter und gebildeter Menſch, ſo
werden ſie das Rechtsbewußtſeyn, welches Jedem aus

(a) Haller Reſtauration der Staatswiſſenſchaft.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0088" n="32"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">I.</hi> Quellen. Kap. <hi rendition="#aq">II.</hi> Allg. Natur der Quellen.</fw><lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe durch die &#x017F;ittliche Kraft und Ge&#x017F;undheit des Volkes<lb/>
überwunden und verarbeitet werden; gelingt die&#x017F;e Verar-<lb/>
beitung nicht, &#x017F;o wird ein krankhafter Zu&#x017F;tand daraus<lb/>
hervorgehen. Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e erklärt es &#x017F;ich, wie das,<lb/>
was ur&#x017F;prünglich Gewalt und Unrecht war, allmälig<lb/>
durch die dem Rechtszu&#x017F;tand inwohnende Anziehungskraft<lb/>
derge&#x017F;talt umgebildet werden kann, daß es in den&#x017F;elben<lb/>
als neuer, rechtmäßiger Be&#x017F;tandtheil übergeht. Ganz ver-<lb/>
werflich aber, ja abentheuerlich i&#x017F;t es, wenn man ver&#x017F;ucht<lb/>
hat, &#x017F;olche &#x017F;törende und die &#x017F;ittliche Kraft prüfende Ano-<lb/>
malien als die wahre Ent&#x017F;tehung der Staaten darzu&#x017F;tel-<lb/>
len, und darin die einzig mögliche Rettung zu &#x017F;uchen vor<lb/>
der gefährlichen Lehre, welche die Staaten durch den will-<lb/>
kührlichen Vertrag ihrer einzelnen Mitglieder ent&#x017F;tehen<lb/>
läßt <note place="foot" n="(a)"><hi rendition="#g">Haller</hi> Re&#x017F;tauration der Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft.</note>. Bey die&#x017F;em Rettungsver&#x017F;uch i&#x017F;t es &#x017F;chwer zu<lb/>
&#x017F;agen, welches von beiden bedenklicher i&#x017F;t, die Krankheit<lb/>
oder das Heilmittel.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 11.<lb/><hi rendition="#g">Völkerrecht</hi>.</head><lb/>
            <p>Betrachten wir weiter das Verhältniß mehrerer neben<lb/>
einander be&#x017F;tehender Völker und Staaten, &#x017F;o er&#x017F;cheint uns<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe zunäch&#x017F;t ähnlich dem Verhältniß einzelner Men-<lb/>
&#x017F;chen, die durch Zufall zu&#x017F;ammen geführt werden, ohne<lb/>
durch Volksgemein&#x017F;chaft verbunden zu &#x017F;eyn. I&#x017F;t Jeder<lb/>
der&#x017F;elben ein wohlge&#x017F;innter und gebildeter Men&#x017F;ch, &#x017F;o<lb/>
werden &#x017F;ie das Rechtsbewußt&#x017F;eyn, welches Jedem aus<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0088] Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen. daſſelbe durch die ſittliche Kraft und Geſundheit des Volkes überwunden und verarbeitet werden; gelingt dieſe Verar- beitung nicht, ſo wird ein krankhafter Zuſtand daraus hervorgehen. Auf dieſe Weiſe erklärt es ſich, wie das, was urſprünglich Gewalt und Unrecht war, allmälig durch die dem Rechtszuſtand inwohnende Anziehungskraft dergeſtalt umgebildet werden kann, daß es in denſelben als neuer, rechtmäßiger Beſtandtheil übergeht. Ganz ver- werflich aber, ja abentheuerlich iſt es, wenn man verſucht hat, ſolche ſtörende und die ſittliche Kraft prüfende Ano- malien als die wahre Entſtehung der Staaten darzuſtel- len, und darin die einzig mögliche Rettung zu ſuchen vor der gefährlichen Lehre, welche die Staaten durch den will- kührlichen Vertrag ihrer einzelnen Mitglieder entſtehen läßt (a). Bey dieſem Rettungsverſuch iſt es ſchwer zu ſagen, welches von beiden bedenklicher iſt, die Krankheit oder das Heilmittel. §. 11. Völkerrecht. Betrachten wir weiter das Verhältniß mehrerer neben einander beſtehender Völker und Staaten, ſo erſcheint uns daſſelbe zunächſt ähnlich dem Verhältniß einzelner Men- ſchen, die durch Zufall zuſammen geführt werden, ohne durch Volksgemeinſchaft verbunden zu ſeyn. Iſt Jeder derſelben ein wohlgeſinnter und gebildeter Menſch, ſo werden ſie das Rechtsbewußtſeyn, welches Jedem aus (a) Haller Reſtauration der Staatswiſſenſchaft.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/88
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/88>, abgerufen am 22.12.2024.