Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.
beide Ansichten gar nicht als widerstreitend. Was in dem
einzelnen Volk wirkt, ist nur der allgemeine Menschengeist,
der sich in ihm auf individuelle Weise offenbart. Allein
die Erzeugung des Rechts ist eine That, und eine gemein-
schaftliche That. Diese ist nur denkbar für diejenigen,
unter welchen eine Gemeinschaft des Denkens und Thuns
nicht nur möglich, sondern auch wirklich ist. Da nun
eine solche Gemeinschaft nur innerhalb der Gränzen des
einzelnen Volkes vorhanden ist, so kann auch nur hier das
wirkliche Recht hervorgebracht werden, obgleich in der
Erzeugung desselben die Äußerung eines allgemein mensch-
lichen Bildungstriebes wahrzunehmen ist, also nicht etwa
die eigenthümliche Willkühr mancher besonderen Völker,
wovon in andern Völkern vielleicht keine Spur angetroffen
werden könnte. Nur darin findet sich eine Verschiedenheit,
daß dieses Erzeugniß des Volksgeistes bald dem einzelnen
Volke ganz eigenthümlich, bald aber in mehreren Völkern
gleichmäßig vorkommend ist. Wie die Römer diese allge-
meinere Grundlage des Volksrechts als Jus gentium auf-
gefaßt haben, wird unten gezeigt werden (§ 22.).

§. 9.
Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.

Das Volk, dem wir als einem unsichtbaren Naturgan-
zen unbestimmte Gränzen zuschreiben mußten, besteht jedoch
nirgend und in keiner Zeit auf diese abstracte Weise.
Vielmehr wirkt in ihm ein unaufhaltsamer Trieb, die

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.
beide Anſichten gar nicht als widerſtreitend. Was in dem
einzelnen Volk wirkt, iſt nur der allgemeine Menſchengeiſt,
der ſich in ihm auf individuelle Weiſe offenbart. Allein
die Erzeugung des Rechts iſt eine That, und eine gemein-
ſchaftliche That. Dieſe iſt nur denkbar für diejenigen,
unter welchen eine Gemeinſchaft des Denkens und Thuns
nicht nur möglich, ſondern auch wirklich iſt. Da nun
eine ſolche Gemeinſchaft nur innerhalb der Gränzen des
einzelnen Volkes vorhanden iſt, ſo kann auch nur hier das
wirkliche Recht hervorgebracht werden, obgleich in der
Erzeugung deſſelben die Äußerung eines allgemein menſch-
lichen Bildungstriebes wahrzunehmen iſt, alſo nicht etwa
die eigenthümliche Willkühr mancher beſonderen Völker,
wovon in andern Völkern vielleicht keine Spur angetroffen
werden könnte. Nur darin findet ſich eine Verſchiedenheit,
daß dieſes Erzeugniß des Volksgeiſtes bald dem einzelnen
Volke ganz eigenthümlich, bald aber in mehreren Völkern
gleichmäßig vorkommend iſt. Wie die Römer dieſe allge-
meinere Grundlage des Volksrechts als Jus gentium auf-
gefaßt haben, wird unten gezeigt werden (§ 22.).

§. 9.
Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.

Das Volk, dem wir als einem unſichtbaren Naturgan-
zen unbeſtimmte Gränzen zuſchreiben mußten, beſteht jedoch
nirgend und in keiner Zeit auf dieſe abſtracte Weiſe.
Vielmehr wirkt in ihm ein unaufhaltſamer Trieb, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0077" n="21"/><fw place="top" type="header">§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.</fw><lb/>
beide An&#x017F;ichten gar nicht als wider&#x017F;treitend. Was in dem<lb/>
einzelnen Volk wirkt, i&#x017F;t nur der allgemeine Men&#x017F;chengei&#x017F;t,<lb/>
der &#x017F;ich in ihm auf individuelle Wei&#x017F;e offenbart. Allein<lb/>
die Erzeugung des Rechts i&#x017F;t eine That, und eine gemein-<lb/>
&#x017F;chaftliche That. Die&#x017F;e i&#x017F;t nur denkbar für diejenigen,<lb/>
unter welchen eine Gemein&#x017F;chaft des Denkens und Thuns<lb/>
nicht nur möglich, &#x017F;ondern auch wirklich i&#x017F;t. Da nun<lb/>
eine &#x017F;olche Gemein&#x017F;chaft nur innerhalb der Gränzen des<lb/>
einzelnen Volkes vorhanden i&#x017F;t, &#x017F;o kann auch nur hier das<lb/>
wirkliche Recht hervorgebracht werden, obgleich in der<lb/>
Erzeugung de&#x017F;&#x017F;elben die Äußerung eines allgemein men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Bildungstriebes wahrzunehmen i&#x017F;t, al&#x017F;o nicht etwa<lb/>
die eigenthümliche Willkühr mancher be&#x017F;onderen Völker,<lb/>
wovon in andern Völkern vielleicht keine Spur angetroffen<lb/>
werden könnte. Nur darin findet &#x017F;ich eine Ver&#x017F;chiedenheit,<lb/>
daß die&#x017F;es Erzeugniß des Volksgei&#x017F;tes bald dem einzelnen<lb/>
Volke ganz eigenthümlich, bald aber in mehreren Völkern<lb/>
gleichmäßig vorkommend i&#x017F;t. Wie die Römer die&#x017F;e allge-<lb/>
meinere Grundlage des Volksrechts als <hi rendition="#aq">Jus gentium</hi> auf-<lb/>
gefaßt haben, wird unten gezeigt werden (§ 22.).</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 9.<lb/><hi rendition="#g">Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht</hi>.</head><lb/>
            <p>Das Volk, dem wir als einem un&#x017F;ichtbaren Naturgan-<lb/>
zen unbe&#x017F;timmte Gränzen zu&#x017F;chreiben mußten, be&#x017F;teht jedoch<lb/>
nirgend und in keiner Zeit auf die&#x017F;e ab&#x017F;tracte Wei&#x017F;e.<lb/>
Vielmehr wirkt in ihm ein unaufhalt&#x017F;amer Trieb, die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0077] §. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht. beide Anſichten gar nicht als widerſtreitend. Was in dem einzelnen Volk wirkt, iſt nur der allgemeine Menſchengeiſt, der ſich in ihm auf individuelle Weiſe offenbart. Allein die Erzeugung des Rechts iſt eine That, und eine gemein- ſchaftliche That. Dieſe iſt nur denkbar für diejenigen, unter welchen eine Gemeinſchaft des Denkens und Thuns nicht nur möglich, ſondern auch wirklich iſt. Da nun eine ſolche Gemeinſchaft nur innerhalb der Gränzen des einzelnen Volkes vorhanden iſt, ſo kann auch nur hier das wirkliche Recht hervorgebracht werden, obgleich in der Erzeugung deſſelben die Äußerung eines allgemein menſch- lichen Bildungstriebes wahrzunehmen iſt, alſo nicht etwa die eigenthümliche Willkühr mancher beſonderen Völker, wovon in andern Völkern vielleicht keine Spur angetroffen werden könnte. Nur darin findet ſich eine Verſchiedenheit, daß dieſes Erzeugniß des Volksgeiſtes bald dem einzelnen Volke ganz eigenthümlich, bald aber in mehreren Völkern gleichmäßig vorkommend iſt. Wie die Römer dieſe allge- meinere Grundlage des Volksrechts als Jus gentium auf- gefaßt haben, wird unten gezeigt werden (§ 22.). §. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht. Das Volk, dem wir als einem unſichtbaren Naturgan- zen unbeſtimmte Gränzen zuſchreiben mußten, beſteht jedoch nirgend und in keiner Zeit auf dieſe abſtracte Weiſe. Vielmehr wirkt in ihm ein unaufhaltſamer Trieb, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/77
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/77>, abgerufen am 22.12.2024.