Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
§. 15. Die Rechtsquellen in ihrem Zusammenhang. Natur und Herkunft ihres Inhalts.
Aus der bisherigen Darstellung geht hervor, daß ur- sprünglich alles positive Recht Volksrecht ist, und daß dieser ursprünglichen Rechtserzeugung (oft schon in frühen Zeiten) Gesetzgebung ergänzend und unterstützend zur Seite tritt. Kommt dann, durch fortschreitende Entwicklung des Volks, Rechtswissenschaft hinzu, so sind dem Volksrecht in dem Gesetz und der Wissenschaft zwey Organe gege- ben, deren jedes zugleich sein eigenes Leben für sich führt. Nimmt endlich in späteren Zeiten die rechtsbildende Kraft des Volkes in seiner Totalität ab, so lebt sie fort in die- sen Organen. Dann aber ist auch von dem alten Volks- recht meist wenig mehr in seiner ursprünglichen Gestalt sichtbar, indem dasselbe, seinem größten und wichtigsten Theile nach, in Gesetzgebung und Wissenschaft verarbeitet seyn wird, und nur noch in dieser unmittelbar erscheint. Auf diese Weise kann es geschehen, daß das Volksrecht von Gesetz und Wissenschaft, in welchen es fortlebt, fast ganz verdeckt wird, und es wird nun auch die wahre Entstehung des vorhandenen positiven Rechts leicht ver- gessen und verkannt werden (a). Insbesondere hat die
diese historische Angabe als wahr anzunehmen ist, kann hier nicht der Ort seyn zu untersuchen.
(a) Dieses Verdecken der ursprünglichen Rechtserzeugung durch spätere Formen, worin der frühere Stoff übergegangen war, zeigt sich besonders in einem con- stanten Sprachgebrauch des spä- teren Römischen Rechts. Früher
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
§. 15. Die Rechtsquellen in ihrem Zuſammenhang. Natur und Herkunft ihres Inhalts.
Aus der bisherigen Darſtellung geht hervor, daß ur- ſprünglich alles poſitive Recht Volksrecht iſt, und daß dieſer urſprünglichen Rechtserzeugung (oft ſchon in frühen Zeiten) Geſetzgebung ergänzend und unterſtützend zur Seite tritt. Kommt dann, durch fortſchreitende Entwicklung des Volks, Rechtswiſſenſchaft hinzu, ſo ſind dem Volksrecht in dem Geſetz und der Wiſſenſchaft zwey Organe gege- ben, deren jedes zugleich ſein eigenes Leben für ſich führt. Nimmt endlich in ſpäteren Zeiten die rechtsbildende Kraft des Volkes in ſeiner Totalität ab, ſo lebt ſie fort in die- ſen Organen. Dann aber iſt auch von dem alten Volks- recht meiſt wenig mehr in ſeiner urſprünglichen Geſtalt ſichtbar, indem daſſelbe, ſeinem größten und wichtigſten Theile nach, in Geſetzgebung und Wiſſenſchaft verarbeitet ſeyn wird, und nur noch in dieſer unmittelbar erſcheint. Auf dieſe Weiſe kann es geſchehen, daß das Volksrecht von Geſetz und Wiſſenſchaft, in welchen es fortlebt, faſt ganz verdeckt wird, und es wird nun auch die wahre Entſtehung des vorhandenen poſitiven Rechts leicht ver- geſſen und verkannt werden (a). Insbeſondere hat die
dieſe hiſtoriſche Angabe als wahr anzunehmen iſt, kann hier nicht der Ort ſeyn zu unterſuchen.
(a) Dieſes Verdecken der urſprünglichen Rechtserzeugung durch ſpätere Formen, worin der frühere Stoff übergegangen war, zeigt ſich beſonders in einem con- ſtanten Sprachgebrauch des ſpä- teren Römiſchen Rechts. Früher
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Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
§. 15.
Die Rechtsquellen in ihrem Zuſammenhang. Natur
und Herkunft ihres Inhalts.
Aus der bisherigen Darſtellung geht hervor, daß ur-
ſprünglich alles poſitive Recht Volksrecht iſt, und daß
dieſer urſprünglichen Rechtserzeugung (oft ſchon in frühen
Zeiten) Geſetzgebung ergänzend und unterſtützend zur Seite
tritt. Kommt dann, durch fortſchreitende Entwicklung des
Volks, Rechtswiſſenſchaft hinzu, ſo ſind dem Volksrecht
in dem Geſetz und der Wiſſenſchaft zwey Organe gege-
ben, deren jedes zugleich ſein eigenes Leben für ſich führt.
Nimmt endlich in ſpäteren Zeiten die rechtsbildende Kraft
des Volkes in ſeiner Totalität ab, ſo lebt ſie fort in die-
ſen Organen. Dann aber iſt auch von dem alten Volks-
recht meiſt wenig mehr in ſeiner urſprünglichen Geſtalt
ſichtbar, indem daſſelbe, ſeinem größten und wichtigſten
Theile nach, in Geſetzgebung und Wiſſenſchaft verarbeitet
ſeyn wird, und nur noch in dieſer unmittelbar erſcheint.
Auf dieſe Weiſe kann es geſchehen, daß das Volksrecht
von Geſetz und Wiſſenſchaft, in welchen es fortlebt, faſt
ganz verdeckt wird, und es wird nun auch die wahre
Entſtehung des vorhandenen poſitiven Rechts leicht ver-
geſſen und verkannt werden (a). Insbeſondere hat die
(d)
(a) Dieſes Verdecken der
urſprünglichen Rechtserzeugung
durch ſpätere Formen, worin der
frühere Stoff übergegangen war,
zeigt ſich beſonders in einem con-
ſtanten Sprachgebrauch des ſpä-
teren Römiſchen Rechts. Früher
(d) dieſe hiſtoriſche Angabe als wahr
anzunehmen iſt, kann hier nicht
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/106>, abgerufen am 03.03.2025.
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