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Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784.

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Bemerkungen.

Gestern und heute sah ich Prozessionen durch die
Stadt ziehen mit Sang und Klang. Heute war früh
um 7. Uhr das Kreuzfahren, oder so etwas; da ging
der Kardinal Migazzi in seiner ganzen rothen Kardinals-
kleidung selbst mit. Der Kaiser hat zwar auch viel da-
von abgeschaft, z. B. die Brüderschaften dürfen nicht
mehr prozessioniren; ferner werden nicht mehr so viele ge-
halten als vorher, drittens dürfen sie dabei die Gassen
nicht mehr sperren, wie ehemals. Sie müssen sich jetzt
gefallen lassen, daß man durch sie durchgeht und fährt.

Die verstorbene Kaiserin, die man für eine bigotte
Dame ausschrie, gab der katholischen Frau von Stock-
maier,
als sie ihren Lutherischen Gemahl heirathete,
diese Regel: "Plage sie ihren Mann mit ihrer Religion
"nicht, führe sie sich lieber so auf, daß ihm ihre Reli-
"gion schätzbar werde" (1 Cor. VII.).

Fast alle, auch die Gescheutesten, wenn man mit
ihnen von Religionsveränderung spricht, sehen den
Unterschied zwischen Lutherisch und Katholisch für gar
klein an, sagen, man könne Gott und den Menschen
überall lieben, auf welche Weise aber einer glaube, daß
er Gott mehr Ehre anthue, Rosenkranz, Wallfahrten etc.
das sei sehr gleichgültig. -- Man sei nicht schuldig nach
besserer Erkenntnis zu streben, am sichersten bleibe man
in der Religion, worin man erzogen sei etc. Folgen von
dem abscheulichen Vorurtheil, als wäre Religion nur eine
spekulative Sache für den Verstand, und nicht tägliches
Geschäft des Lebens und des Herzens. Die vornehmen
Protestanten hier behandeln auch ihre Religion sehr kaltsin-
nig und nachlässig. Essen, Trinken und Schauspiele sind

ihnen
Bemerkungen.

Geſtern und heute ſah ich Prozeſſionen durch die
Stadt ziehen mit Sang und Klang. Heute war fruͤh
um 7. Uhr das Kreuzfahren, oder ſo etwas; da ging
der Kardinal Migazzi in ſeiner ganzen rothen Kardinals-
kleidung ſelbſt mit. Der Kaiſer hat zwar auch viel da-
von abgeſchaft, z. B. die Bruͤderſchaften duͤrfen nicht
mehr prozeſſioniren; ferner werden nicht mehr ſo viele ge-
halten als vorher, drittens duͤrfen ſie dabei die Gaſſen
nicht mehr ſperren, wie ehemals. Sie muͤſſen ſich jetzt
gefallen laſſen, daß man durch ſie durchgeht und faͤhrt.

Die verſtorbene Kaiſerin, die man fuͤr eine bigotte
Dame ausſchrie, gab der katholiſchen Frau von Stock-
maier,
als ſie ihren Lutheriſchen Gemahl heirathete,
dieſe Regel: „Plage ſie ihren Mann mit ihrer Religion
„nicht, fuͤhre ſie ſich lieber ſo auf, daß ihm ihre Reli-
„gion ſchaͤtzbar werde“ (1 Cor. VII.).

Faſt alle, auch die Geſcheuteſten, wenn man mit
ihnen von Religionsveraͤnderung ſpricht, ſehen den
Unterſchied zwiſchen Lutheriſch und Katholiſch fuͤr gar
klein an, ſagen, man koͤnne Gott und den Menſchen
uͤberall lieben, auf welche Weiſe aber einer glaube, daß
er Gott mehr Ehre anthue, Roſenkranz, Wallfahrten ꝛc.
das ſei ſehr gleichguͤltig. — Man ſei nicht ſchuldig nach
beſſerer Erkenntnis zu ſtreben, am ſicherſten bleibe man
in der Religion, worin man erzogen ſei ꝛc. Folgen von
dem abſcheulichen Vorurtheil, als waͤre Religion nur eine
ſpekulative Sache fuͤr den Verſtand, und nicht taͤgliches
Geſchaͤft des Lebens und des Herzens. Die vornehmen
Proteſtanten hier behandeln auch ihre Religion ſehr kaltſin-
nig und nachlaͤſſig. Eſſen, Trinken und Schauſpiele ſind

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[509/0547] Bemerkungen. Geſtern und heute ſah ich Prozeſſionen durch die Stadt ziehen mit Sang und Klang. Heute war fruͤh um 7. Uhr das Kreuzfahren, oder ſo etwas; da ging der Kardinal Migazzi in ſeiner ganzen rothen Kardinals- kleidung ſelbſt mit. Der Kaiſer hat zwar auch viel da- von abgeſchaft, z. B. die Bruͤderſchaften duͤrfen nicht mehr prozeſſioniren; ferner werden nicht mehr ſo viele ge- halten als vorher, drittens duͤrfen ſie dabei die Gaſſen nicht mehr ſperren, wie ehemals. Sie muͤſſen ſich jetzt gefallen laſſen, daß man durch ſie durchgeht und faͤhrt. Die verſtorbene Kaiſerin, die man fuͤr eine bigotte Dame ausſchrie, gab der katholiſchen Frau von Stock- maier, als ſie ihren Lutheriſchen Gemahl heirathete, dieſe Regel: „Plage ſie ihren Mann mit ihrer Religion „nicht, fuͤhre ſie ſich lieber ſo auf, daß ihm ihre Reli- „gion ſchaͤtzbar werde“ (1 Cor. VII.). Faſt alle, auch die Geſcheuteſten, wenn man mit ihnen von Religionsveraͤnderung ſpricht, ſehen den Unterſchied zwiſchen Lutheriſch und Katholiſch fuͤr gar klein an, ſagen, man koͤnne Gott und den Menſchen uͤberall lieben, auf welche Weiſe aber einer glaube, daß er Gott mehr Ehre anthue, Roſenkranz, Wallfahrten ꝛc. das ſei ſehr gleichguͤltig. — Man ſei nicht ſchuldig nach beſſerer Erkenntnis zu ſtreben, am ſicherſten bleibe man in der Religion, worin man erzogen ſei ꝛc. Folgen von dem abſcheulichen Vorurtheil, als waͤre Religion nur eine ſpekulative Sache fuͤr den Verſtand, und nicht taͤgliches Geſchaͤft des Lebens und des Herzens. Die vornehmen Proteſtanten hier behandeln auch ihre Religion ſehr kaltſin- nig und nachlaͤſſig. Eſſen, Trinken und Schauſpiele ſind ihnen

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784/547>, abgerufen am 21.11.2024.