Ich hatte wieder für einige Wochen Freiheit. Man erwartete den Herbst, und sprach mit der grösten Hofnung davon. Es war noch so Manches in und um mein Vaterland, das ich nicht gesehen hatte, und doch gerne sehen wollte. Von einigen Klöstern in der Gegend hatte ich ohnehin schon oft lockende Beschreibungen gehört. Meine Freunde erwarteten mich zu den Freuden der Wein- lese, die zu den angenehmsten auf dem Lande gehören. Der wieder lang genug gesessene Körper erforderte Er- schütterung und starke Bewegung. Die Seele, die seit Ostern immer wieder über ihren gewohnten Gegenständen gebrütet hatte, flog mit Ungeduld aus den engen Wän- den des Zimmers, und verlangte wieder neue Gegenstän- de, neue Bilder, neue Menschen, neue Aussichten, und neue Unterhaltungen. Dabei fühlte ich es wieder so stark, daß man im Zirkel des menschlichen Lebens, so wie er insgemein aussieht, wahrlich nicht sich selber lebt, sondern mehr für andre geplagt ist, von andern abhängt, von andern überall eingeschränkt wird, und eben deswegen auch manches unschuldige Vergnügen, das die Natur darbietet, und das von der schmachtenden Seele begierig ergriffen wird, nur halb genießt. Sehen Sie da, mein Lieber, die vielen Ursachen, warum ich mir in der Mitte des Septembers ein Pferd satteln lies, und alles zu einer
kleinen
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Reiſe nach St. Blaſien
um Michael 1781.
Ich hatte wieder fuͤr einige Wochen Freiheit. Man erwartete den Herbſt, und ſprach mit der groͤſten Hofnung davon. Es war noch ſo Manches in und um mein Vaterland, das ich nicht geſehen hatte, und doch gerne ſehen wollte. Von einigen Kloͤſtern in der Gegend hatte ich ohnehin ſchon oft lockende Beſchreibungen gehoͤrt. Meine Freunde erwarteten mich zu den Freuden der Wein- leſe, die zu den angenehmſten auf dem Lande gehoͤren. Der wieder lang genug geſeſſene Koͤrper erforderte Er- ſchuͤtterung und ſtarke Bewegung. Die Seele, die ſeit Oſtern immer wieder uͤber ihren gewohnten Gegenſtaͤnden gebruͤtet hatte, flog mit Ungeduld aus den engen Waͤn- den des Zimmers, und verlangte wieder neue Gegenſtaͤn- de, neue Bilder, neue Menſchen, neue Ausſichten, und neue Unterhaltungen. Dabei fuͤhlte ich es wieder ſo ſtark, daß man im Zirkel des menſchlichen Lebens, ſo wie er insgemein ausſieht, wahrlich nicht ſich ſelber lebt, ſondern mehr fuͤr andre geplagt iſt, von andern abhaͤngt, von andern uͤberall eingeſchraͤnkt wird, und eben deswegen auch manches unſchuldige Vergnuͤgen, das die Natur darbietet, und das von der ſchmachtenden Seele begierig ergriffen wird, nur halb genießt. Sehen Sie da, mein Lieber, die vielen Urſachen, warum ich mir in der Mitte des Septembers ein Pferd ſatteln lies, und alles zu einer
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Reiſe
nach St. Blaſien
um Michael 1781.
Ich hatte wieder fuͤr einige Wochen Freiheit. Man
erwartete den Herbſt, und ſprach mit der groͤſten
Hofnung davon. Es war noch ſo Manches in und um
mein Vaterland, das ich nicht geſehen hatte, und doch
gerne ſehen wollte. Von einigen Kloͤſtern in der Gegend
hatte ich ohnehin ſchon oft lockende Beſchreibungen gehoͤrt.
Meine Freunde erwarteten mich zu den Freuden der Wein-
leſe, die zu den angenehmſten auf dem Lande gehoͤren.
Der wieder lang genug geſeſſene Koͤrper erforderte Er-
ſchuͤtterung und ſtarke Bewegung. Die Seele, die ſeit
Oſtern immer wieder uͤber ihren gewohnten Gegenſtaͤnden
gebruͤtet hatte, flog mit Ungeduld aus den engen Waͤn-
den des Zimmers, und verlangte wieder neue Gegenſtaͤn-
de, neue Bilder, neue Menſchen, neue Ausſichten, und
neue Unterhaltungen. Dabei fuͤhlte ich es wieder ſo ſtark,
daß man im Zirkel des menſchlichen Lebens, ſo wie er
insgemein ausſieht, wahrlich nicht ſich ſelber lebt, ſondern
mehr fuͤr andre geplagt iſt, von andern abhaͤngt, von
andern uͤberall eingeſchraͤnkt wird, und eben deswegen
auch manches unſchuldige Vergnuͤgen, das die Natur
darbietet, und das von der ſchmachtenden Seele begierig
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird dessen Reisebeschreibung veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein druckfertiges Manuskript aus dem Nachlass, welches Sanders Vater dem Verleger Friedrich Gotthold Jacobäer zur Verfügung stellte. Nach dem Vorbericht des Herausgebers wurden nur einige wenige Schreibfehler berichtigt (siehe dazu den Vorbericht des Herausgebers des ersten Bandes, Faksimile 0019f.).
Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784, S. [329]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784/367>, abgerufen am 21.11.2024.
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