Erstes Capitel. Geschichte der Sexualtheorie. 1. Von Aristoteles bis auf A. J. Camerarius.
Zu einer richtigen Würdigung dessen, was am Ende des 17. Jahrhunderts durch Rudolph Jakob Camerarius und später durch seine Nachfolger über die Geschlechtsverhältnisse der Pflanzen entdeckt worden ist, wird es beitragen, wenn wir uns darüber unterrichten, was man seit Aristoteles in dieser Beziehung zu Tage gefördert hatte; wir werden dabei zugleich erfahren, wie äußerst unfruchtbar die auf oberflächliche Beobachtung gestützte ältere Philosophie auf einem Gebiet sich erwies, wo nur die inductive Forschung zu Resultaten führen konnte.
Daß Aristoteles 1) wie viele Spätere die sexuelle Befruchtung zu den Ernährungsvorgängen rechnete und auf diese Weise gerade das specifisch Eigenthümliche der letzteren verkannte, ersieht man deutlich genug aus seiner Aeußerung: dieselbe Kraft der Seele sei die ernährende und die erzeugende. Zu dieser auf ungenauer Erwägung beruhenden Subsumption gesellte sich bei Aristoteles noch außerdem ein auf sehr mangelhafter Erfahrung beruhender Irrthum, insofern er die Sexualität der Organismen in eine causale Beziehung zu ihrer Ortsbewegung setzte. "Bei allen Thieren, heißt es in seinen botanischen Fragmenten, welche Ortsbewegung haben, ist das Weibliche vom Männlichen ge- trennt, und ein Thier weiblich, das andere männlich, beide jedoch
1) Vergl. Ernst Meyer's Gesch. d. Bot. Bd. 1 pag. 98 ff.
Geſchichte der Sexualtheorie.
Erſtes Capitel. Geſchichte der Sexualtheorie. 1. Von Ariſtoteles bis auf A. J. Camerarius.
Zu einer richtigen Würdigung deſſen, was am Ende des 17. Jahrhunderts durch Rudolph Jakob Camerarius und ſpäter durch ſeine Nachfolger über die Geſchlechtsverhältniſſe der Pflanzen entdeckt worden iſt, wird es beitragen, wenn wir uns darüber unterrichten, was man ſeit Ariſtoteles in dieſer Beziehung zu Tage gefördert hatte; wir werden dabei zugleich erfahren, wie äußerſt unfruchtbar die auf oberflächliche Beobachtung geſtützte ältere Philoſophie auf einem Gebiet ſich erwies, wo nur die inductive Forſchung zu Reſultaten führen konnte.
Daß Ariſtoteles 1) wie viele Spätere die ſexuelle Befruchtung zu den Ernährungsvorgängen rechnete und auf dieſe Weiſe gerade das ſpecifiſch Eigenthümliche der letzteren verkannte, erſieht man deutlich genug aus ſeiner Aeußerung: dieſelbe Kraft der Seele ſei die ernährende und die erzeugende. Zu dieſer auf ungenauer Erwägung beruhenden Subſumption geſellte ſich bei Ariſtoteles noch außerdem ein auf ſehr mangelhafter Erfahrung beruhender Irrthum, inſofern er die Sexualität der Organismen in eine cauſale Beziehung zu ihrer Ortsbewegung ſetzte. „Bei allen Thieren, heißt es in ſeinen botaniſchen Fragmenten, welche Ortsbewegung haben, iſt das Weibliche vom Männlichen ge- trennt, und ein Thier weiblich, das andere männlich, beide jedoch
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0418"n="406"/><fwplace="top"type="header">Geſchichte der Sexualtheorie.</fw><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">Erſtes Capitel.<lb/>
Geſchichte der Sexualtheorie.<lb/>
1.<lb/><hirendition="#fr">Von Ariſtoteles bis auf A. J. Camerarius.</hi></hi></head><lb/><p>Zu einer richtigen Würdigung deſſen, was am Ende des<lb/>
17. Jahrhunderts durch Rudolph Jakob Camerarius und ſpäter<lb/>
durch ſeine Nachfolger über die Geſchlechtsverhältniſſe der Pflanzen<lb/>
entdeckt worden iſt, wird es beitragen, wenn wir uns darüber<lb/>
unterrichten, was man ſeit Ariſtoteles in dieſer Beziehung zu<lb/>
Tage gefördert hatte; wir werden dabei zugleich erfahren, wie<lb/>
äußerſt unfruchtbar die auf oberflächliche Beobachtung geſtützte<lb/>
ältere Philoſophie auf einem Gebiet ſich erwies, wo nur die<lb/>
inductive Forſchung zu Reſultaten führen konnte.</p><lb/><p>Daß Ariſtoteles <noteplace="foot"n="1)">Vergl. Ernſt <hirendition="#g">Meyer</hi>'s Geſch. d. Bot. Bd. 1 <hirendition="#aq">pag.</hi> 98 ff.</note> wie viele Spätere die ſexuelle Befruchtung<lb/>
zu den Ernährungsvorgängen rechnete und auf dieſe Weiſe gerade<lb/>
das ſpecifiſch Eigenthümliche der letzteren verkannte, erſieht man<lb/>
deutlich genug aus ſeiner Aeußerung: dieſelbe Kraft der Seele<lb/>ſei die ernährende und die erzeugende. Zu dieſer auf ungenauer<lb/>
Erwägung beruhenden Subſumption geſellte ſich bei Ariſtoteles<lb/>
noch außerdem ein auf ſehr mangelhafter Erfahrung beruhender<lb/>
Irrthum, inſofern er die Sexualität der Organismen in eine<lb/>
cauſale Beziehung zu ihrer Ortsbewegung ſetzte. „Bei allen<lb/>
Thieren, heißt es in ſeinen botaniſchen Fragmenten, welche<lb/>
Ortsbewegung haben, iſt das Weibliche vom Männlichen ge-<lb/>
trennt, und ein Thier weiblich, das andere männlich, beide jedoch<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[406/0418]
Geſchichte der Sexualtheorie.
Erſtes Capitel.
Geſchichte der Sexualtheorie.
1.
Von Ariſtoteles bis auf A. J. Camerarius.
Zu einer richtigen Würdigung deſſen, was am Ende des
17. Jahrhunderts durch Rudolph Jakob Camerarius und ſpäter
durch ſeine Nachfolger über die Geſchlechtsverhältniſſe der Pflanzen
entdeckt worden iſt, wird es beitragen, wenn wir uns darüber
unterrichten, was man ſeit Ariſtoteles in dieſer Beziehung zu
Tage gefördert hatte; wir werden dabei zugleich erfahren, wie
äußerſt unfruchtbar die auf oberflächliche Beobachtung geſtützte
ältere Philoſophie auf einem Gebiet ſich erwies, wo nur die
inductive Forſchung zu Reſultaten führen konnte.
Daß Ariſtoteles 1) wie viele Spätere die ſexuelle Befruchtung
zu den Ernährungsvorgängen rechnete und auf dieſe Weiſe gerade
das ſpecifiſch Eigenthümliche der letzteren verkannte, erſieht man
deutlich genug aus ſeiner Aeußerung: dieſelbe Kraft der Seele
ſei die ernährende und die erzeugende. Zu dieſer auf ungenauer
Erwägung beruhenden Subſumption geſellte ſich bei Ariſtoteles
noch außerdem ein auf ſehr mangelhafter Erfahrung beruhender
Irrthum, inſofern er die Sexualität der Organismen in eine
cauſale Beziehung zu ihrer Ortsbewegung ſetzte. „Bei allen
Thieren, heißt es in ſeinen botaniſchen Fragmenten, welche
Ortsbewegung haben, iſt das Weibliche vom Männlichen ge-
trennt, und ein Thier weiblich, das andere männlich, beide jedoch
1) Vergl. Ernſt Meyer's Geſch. d. Bot. Bd. 1 pag. 98 ff.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/418>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.