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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831.

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Für den Partheylosen und Gleichgültigen müssen ähn-
liche Widersprüche in den Geschmacksurtheilen über denselben
Gegenstand höchst befremdend seyn, häufig selbst ihn veran-
lassen, vom Schönen ganz sich abzuwenden. Indeß werden
sie weder durch subjective Laune, noch durch objective Zwei-
felhaftigkeit des Schönen herbeygeführt, gehen vielmehr noth-
wendig hervor aus Abweichungen in der Wahl des Stand-
punktes, aus welchem das Schöne zu verschiedenen Zeiten und
von verschiedenen Personen aufgefaßt wird.

Im classischen Alterthume ward die Bewegung und was
man den Ausdruck nennt, auch der Schmelz und anderweitige
Sinnesreiz, bey allen vorkommenden Verknüpfungen von Li-
nien, Figuren und Formen einem ursprünglichen (mathemati-
schen) Harmoniegefühle unterworfen, welches, damals noch
voll Frische und Lebendigkeit, unter den Neueren allgemach
erloschen ist und gegenwärtig nur etwa noch in der Musik und
Metrik sich behauptet. Nun verlor sich, wie in so viel an-
deren Beziehungen, so auch in dieser, das Eigenthümliche des
classischen Alterthumes nicht so plötzlich, als man vorzeiten
angenommen hat. Denn es zeigen die Bauwerke des Mittel-
alters sammt ihren bildnerisch-malerischen Zierden, obwohl sie
den Vergleich mit den classischen nicht aushalten, doch, wenn
man sie mit ganz modernen zusammenstellt, noch immer ein
gewisses mit technischem Ungeschick und geistiger Befangenheit
ringendes Verlangen, schöne Configurationen hervor-
zubringen
. Diese eine Analogie mittelalterlicher und anti-
ker Kunstbestrebungen erklärt, daß in Folge täglich zunehmen-
der Bekanntschaft mit den Eigenthümlichkeiten ächtgriechischer
Kunst die Versuche und Leistungen des Mittelalters, welche
man langezeit durchaus verachtet hatte, nunmehr billiger Be-

III. 6

Fuͤr den Partheyloſen und Gleichguͤltigen muͤſſen aͤhn-
liche Widerſpruͤche in den Geſchmacksurtheilen uͤber denſelben
Gegenſtand hoͤchſt befremdend ſeyn, haͤufig ſelbſt ihn veran-
laſſen, vom Schoͤnen ganz ſich abzuwenden. Indeß werden
ſie weder durch ſubjective Laune, noch durch objective Zwei-
felhaftigkeit des Schoͤnen herbeygefuͤhrt, gehen vielmehr noth-
wendig hervor aus Abweichungen in der Wahl des Stand-
punktes, aus welchem das Schoͤne zu verſchiedenen Zeiten und
von verſchiedenen Perſonen aufgefaßt wird.

Im claſſiſchen Alterthume ward die Bewegung und was
man den Ausdruck nennt, auch der Schmelz und anderweitige
Sinnesreiz, bey allen vorkommenden Verknuͤpfungen von Li-
nien, Figuren und Formen einem urſpruͤnglichen (mathemati-
ſchen) Harmoniegefuͤhle unterworfen, welches, damals noch
voll Friſche und Lebendigkeit, unter den Neueren allgemach
erloſchen iſt und gegenwaͤrtig nur etwa noch in der Muſik und
Metrik ſich behauptet. Nun verlor ſich, wie in ſo viel an-
deren Beziehungen, ſo auch in dieſer, das Eigenthuͤmliche des
claſſiſchen Alterthumes nicht ſo ploͤtzlich, als man vorzeiten
angenommen hat. Denn es zeigen die Bauwerke des Mittel-
alters ſammt ihren bildneriſch-maleriſchen Zierden, obwohl ſie
den Vergleich mit den claſſiſchen nicht aushalten, doch, wenn
man ſie mit ganz modernen zuſammenſtellt, noch immer ein
gewiſſes mit techniſchem Ungeſchick und geiſtiger Befangenheit
ringendes Verlangen, ſchoͤne Configurationen hervor-
zubringen
. Dieſe eine Analogie mittelalterlicher und anti-
ker Kunſtbeſtrebungen erklaͤrt, daß in Folge taͤglich zunehmen-
der Bekanntſchaft mit den Eigenthuͤmlichkeiten aͤchtgriechiſcher
Kunſt die Verſuche und Leiſtungen des Mittelalters, welche
man langezeit durchaus verachtet hatte, nunmehr billiger Be-

III. 6
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[81/0103] Fuͤr den Partheyloſen und Gleichguͤltigen muͤſſen aͤhn- liche Widerſpruͤche in den Geſchmacksurtheilen uͤber denſelben Gegenſtand hoͤchſt befremdend ſeyn, haͤufig ſelbſt ihn veran- laſſen, vom Schoͤnen ganz ſich abzuwenden. Indeß werden ſie weder durch ſubjective Laune, noch durch objective Zwei- felhaftigkeit des Schoͤnen herbeygefuͤhrt, gehen vielmehr noth- wendig hervor aus Abweichungen in der Wahl des Stand- punktes, aus welchem das Schoͤne zu verſchiedenen Zeiten und von verſchiedenen Perſonen aufgefaßt wird. Im claſſiſchen Alterthume ward die Bewegung und was man den Ausdruck nennt, auch der Schmelz und anderweitige Sinnesreiz, bey allen vorkommenden Verknuͤpfungen von Li- nien, Figuren und Formen einem urſpruͤnglichen (mathemati- ſchen) Harmoniegefuͤhle unterworfen, welches, damals noch voll Friſche und Lebendigkeit, unter den Neueren allgemach erloſchen iſt und gegenwaͤrtig nur etwa noch in der Muſik und Metrik ſich behauptet. Nun verlor ſich, wie in ſo viel an- deren Beziehungen, ſo auch in dieſer, das Eigenthuͤmliche des claſſiſchen Alterthumes nicht ſo ploͤtzlich, als man vorzeiten angenommen hat. Denn es zeigen die Bauwerke des Mittel- alters ſammt ihren bildneriſch-maleriſchen Zierden, obwohl ſie den Vergleich mit den claſſiſchen nicht aushalten, doch, wenn man ſie mit ganz modernen zuſammenſtellt, noch immer ein gewiſſes mit techniſchem Ungeſchick und geiſtiger Befangenheit ringendes Verlangen, ſchoͤne Configurationen hervor- zubringen. Dieſe eine Analogie mittelalterlicher und anti- ker Kunſtbeſtrebungen erklaͤrt, daß in Folge taͤglich zunehmen- der Bekanntſchaft mit den Eigenthuͤmlichkeiten aͤchtgriechiſcher Kunſt die Verſuche und Leiſtungen des Mittelalters, welche man langezeit durchaus verachtet hatte, nunmehr billiger Be- III. 6

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/103>, abgerufen am 26.04.2024.