Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839.Die wilde spricht: du hast, von der Natur entfernt, Den angestammten Trieb der Freiheit nur verlernt. Ich aber fühle michs durchzittern und durchwittern; Leb wol! dort reicht man dir dein Futter aus den Gittern. 48. Die Blumen standen frisch erquickt auf dürrer Au, Denn jede hatt' im Mund ihr Tröpflein Morgenthau. Das hatten sie bei Nacht zur Tageskost empfangen. Sie sprachen: Schwestern, laßt uns nun mit Wen'gem langen! Lang ist der heiße Tag, der uns versengt die Glieder, Und erst der Abend bringt uns eine Labung wieder. Sie wachten hin den Tag so still alsob sie schliefen, Durchschliefen kühl die Nacht, erwachten früh und riefen: Wir armen Schwestern, ach, heut müssen wir verschmachten, Da die gewohnte Lab' uns nicht die Stunden brachten. Die wilde ſpricht: du haſt, von der Natur entfernt, Den angeſtammten Trieb der Freiheit nur verlernt. Ich aber fuͤhle michs durchzittern und durchwittern; Leb wol! dort reicht man dir dein Futter aus den Gittern. 48. Die Blumen ſtanden friſch erquickt auf duͤrrer Au, Denn jede hatt' im Mund ihr Troͤpflein Morgenthau. Das hatten ſie bei Nacht zur Tageskoſt empfangen. Sie ſprachen: Schweſtern, laßt uns nun mit Wen'gem langen! Lang iſt der heiße Tag, der uns verſengt die Glieder, Und erſt der Abend bringt uns eine Labung wieder. Sie wachten hin den Tag ſo ſtill alsob ſie ſchliefen, Durchſchliefen kuͤhl die Nacht, erwachten fruͤh und riefen: Wir armen Schweſtern, ach, heut muͤſſen wir verſchmachten, Da die gewohnte Lab' uns nicht die Stunden brachten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0057" n="47"/> <lg n="8"> <l>Die wilde ſpricht: du haſt, von der Natur entfernt,</l><lb/> <l>Den angeſtammten Trieb der Freiheit nur verlernt.</l> </lg><lb/> <lg n="9"> <l>Ich aber fuͤhle michs durchzittern und durchwittern;</l><lb/> <l>Leb wol! dort reicht man dir dein Futter aus den Gittern.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="2"> <head>48.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Die Blumen ſtanden friſch erquickt auf duͤrrer Au,</l><lb/> <l>Denn jede hatt' im Mund ihr Troͤpflein Morgenthau.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Das hatten ſie bei Nacht zur Tageskoſt empfangen.</l><lb/> <l>Sie ſprachen: Schweſtern, laßt uns nun mit Wen'gem langen!</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Lang iſt der heiße Tag, der uns verſengt die Glieder,</l><lb/> <l>Und erſt der Abend bringt uns eine Labung wieder.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Sie wachten hin den Tag ſo ſtill alsob ſie ſchliefen,</l><lb/> <l>Durchſchliefen kuͤhl die Nacht, erwachten fruͤh und riefen:</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Wir armen Schweſtern, ach, heut muͤſſen wir verſchmachten,</l><lb/> <l>Da die gewohnte Lab' uns nicht die Stunden brachten.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [47/0057]
Die wilde ſpricht: du haſt, von der Natur entfernt,
Den angeſtammten Trieb der Freiheit nur verlernt.
Ich aber fuͤhle michs durchzittern und durchwittern;
Leb wol! dort reicht man dir dein Futter aus den Gittern.
48.
Die Blumen ſtanden friſch erquickt auf duͤrrer Au,
Denn jede hatt' im Mund ihr Troͤpflein Morgenthau.
Das hatten ſie bei Nacht zur Tageskoſt empfangen.
Sie ſprachen: Schweſtern, laßt uns nun mit Wen'gem langen!
Lang iſt der heiße Tag, der uns verſengt die Glieder,
Und erſt der Abend bringt uns eine Labung wieder.
Sie wachten hin den Tag ſo ſtill alsob ſie ſchliefen,
Durchſchliefen kuͤhl die Nacht, erwachten fruͤh und riefen:
Wir armen Schweſtern, ach, heut muͤſſen wir verſchmachten,
Da die gewohnte Lab' uns nicht die Stunden brachten.
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