Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 4. Leipzig, 1838.77. In bessern Zeiten war die Poesie im Frieden Mit Prosa, weil Gebiet war von Gebiet geschieden. Mit Kunst und Weisheit wollt' in ihren eignen Grenzen Sich jede ründen, und mit eigner Schönheit glänzen. Ohn' etwas von dem Gut der Nachbarin genommen Zu haben, jede hielt auf ihr's und war vollkommen. Was hat sie nun bethört, den Haushalt so verstört, Daß keine recht mehr weiß, was recht ihr angehört? Anmaßend haben sie begonnen auszuschweifen, Und jede will in's Reich der andern übergreifen. Daraus entstanden ist Grenzstreitigkeit und Irrung, Und draußen überhand und drinnen nimmt Verwirrung. Was eignes keine mehr will keiner mehr erlauben; Wie eine was erwarb, wird ihr's die andre rauben. 77. In beſſern Zeiten war die Poeſie im Frieden Mit Proſa, weil Gebiet war von Gebiet geſchieden. Mit Kunſt und Weisheit wollt' in ihren eignen Grenzen Sich jede ruͤnden, und mit eigner Schoͤnheit glaͤnzen. Ohn' etwas von dem Gut der Nachbarin genommen Zu haben, jede hielt auf ihr's und war vollkommen. Was hat ſie nun bethoͤrt, den Haushalt ſo verſtoͤrt, Daß keine recht mehr weiß, was recht ihr angehoͤrt? Anmaßend haben ſie begonnen auszuſchweifen, Und jede will in's Reich der andern uͤbergreifen. Daraus entſtanden iſt Grenzſtreitigkeit und Irrung, Und draußen uͤberhand und drinnen nimmt Verwirrung. Was eignes keine mehr will keiner mehr erlauben; Wie eine was erwarb, wird ihr's die andre rauben. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0329" n="319"/> <div n="2"> <head>77.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>In beſſern Zeiten war die Poeſie im Frieden</l><lb/> <l>Mit Proſa, weil Gebiet war von Gebiet geſchieden.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Mit Kunſt und Weisheit wollt' in ihren eignen Grenzen</l><lb/> <l>Sich jede ruͤnden, und mit eigner Schoͤnheit glaͤnzen.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Ohn' etwas von dem Gut der Nachbarin genommen</l><lb/> <l>Zu haben, jede hielt auf ihr's und war vollkommen.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Was hat ſie nun bethoͤrt, den Haushalt ſo verſtoͤrt,</l><lb/> <l>Daß keine recht mehr weiß, was recht ihr angehoͤrt?</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Anmaßend haben ſie begonnen auszuſchweifen,</l><lb/> <l>Und jede will in's Reich der andern uͤbergreifen.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Daraus entſtanden iſt Grenzſtreitigkeit und Irrung,</l><lb/> <l>Und draußen uͤberhand und drinnen nimmt Verwirrung.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Was eignes keine mehr will keiner mehr erlauben;</l><lb/> <l>Wie eine was erwarb, wird ihr's die andre rauben.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [319/0329]
77.
In beſſern Zeiten war die Poeſie im Frieden
Mit Proſa, weil Gebiet war von Gebiet geſchieden.
Mit Kunſt und Weisheit wollt' in ihren eignen Grenzen
Sich jede ruͤnden, und mit eigner Schoͤnheit glaͤnzen.
Ohn' etwas von dem Gut der Nachbarin genommen
Zu haben, jede hielt auf ihr's und war vollkommen.
Was hat ſie nun bethoͤrt, den Haushalt ſo verſtoͤrt,
Daß keine recht mehr weiß, was recht ihr angehoͤrt?
Anmaßend haben ſie begonnen auszuſchweifen,
Und jede will in's Reich der andern uͤbergreifen.
Daraus entſtanden iſt Grenzſtreitigkeit und Irrung,
Und draußen uͤberhand und drinnen nimmt Verwirrung.
Was eignes keine mehr will keiner mehr erlauben;
Wie eine was erwarb, wird ihr's die andre rauben.
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