Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 4. Leipzig, 1838.73. Wohl mag es dir Verdruß erwecken oder Bangen, Wenn Irrthum so sich gibt für Wahrheit unbefangen. Denn wie erkennst du, daß dich lauter Wahrheit säugt, Wenn auch der Irrthum von sich selbst ist überzeugt? Gewiß wird euern Streit einmal die Zeit entscheiden; Allein zu jener Zeit, wo seid ihr dann, ihr Beiden? Doch wenn die Wahrheit dir mehr gilt, als Recht zu haben, So tröste dich und stirb! denn sie wird nicht begraben. 74. Nicht minder als verstehn, will man verstanden seyn; Wie selten aber ist von beiden der Verein! Doch können zwei sich schon vertragen, die sich fanden, Wenn von dem einen nur der andre wird verstanden. Der eine fühlt sich klug, den andern zu verstehn; Dem andern ist's genug, verstanden sich zu sehn. 73. Wohl mag es dir Verdruß erwecken oder Bangen, Wenn Irrthum ſo ſich gibt fuͤr Wahrheit unbefangen. Denn wie erkennſt du, daß dich lauter Wahrheit ſaͤugt, Wenn auch der Irrthum von ſich ſelbſt iſt uͤberzeugt? Gewiß wird euern Streit einmal die Zeit entſcheiden; Allein zu jener Zeit, wo ſeid ihr dann, ihr Beiden? Doch wenn die Wahrheit dir mehr gilt, als Recht zu haben, So troͤſte dich und ſtirb! denn ſie wird nicht begraben. 74. Nicht minder als verſtehn, will man verſtanden ſeyn; Wie ſelten aber iſt von beiden der Verein! Doch koͤnnen zwei ſich ſchon vertragen, die ſich fanden, Wenn von dem einen nur der andre wird verſtanden. Der eine fuͤhlt ſich klug, den andern zu verſtehn; Dem andern iſt's genug, verſtanden ſich zu ſehn. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0326" n="316"/> <div n="2"> <head>73.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Wohl mag es dir Verdruß erwecken oder Bangen,</l><lb/> <l>Wenn Irrthum ſo ſich gibt fuͤr Wahrheit unbefangen.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Denn wie erkennſt du, daß dich lauter Wahrheit ſaͤugt,</l><lb/> <l>Wenn auch der Irrthum von ſich ſelbſt iſt uͤberzeugt?</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Gewiß wird euern Streit einmal die Zeit entſcheiden;</l><lb/> <l>Allein zu jener Zeit, wo ſeid ihr dann, ihr Beiden?</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Doch wenn die Wahrheit dir mehr gilt, als Recht zu haben,</l><lb/> <l>So troͤſte dich und ſtirb! denn ſie wird nicht begraben.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="2"> <head>74.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Nicht minder als verſtehn, will man verſtanden ſeyn;</l><lb/> <l>Wie ſelten aber iſt von beiden der Verein!</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Doch koͤnnen zwei ſich ſchon vertragen, die ſich fanden,</l><lb/> <l>Wenn von dem einen nur der andre wird verſtanden.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Der eine fuͤhlt ſich klug, den andern zu verſtehn;</l><lb/> <l>Dem andern iſt's genug, verſtanden ſich zu ſehn.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [316/0326]
73.
Wohl mag es dir Verdruß erwecken oder Bangen,
Wenn Irrthum ſo ſich gibt fuͤr Wahrheit unbefangen.
Denn wie erkennſt du, daß dich lauter Wahrheit ſaͤugt,
Wenn auch der Irrthum von ſich ſelbſt iſt uͤberzeugt?
Gewiß wird euern Streit einmal die Zeit entſcheiden;
Allein zu jener Zeit, wo ſeid ihr dann, ihr Beiden?
Doch wenn die Wahrheit dir mehr gilt, als Recht zu haben,
So troͤſte dich und ſtirb! denn ſie wird nicht begraben.
74.
Nicht minder als verſtehn, will man verſtanden ſeyn;
Wie ſelten aber iſt von beiden der Verein!
Doch koͤnnen zwei ſich ſchon vertragen, die ſich fanden,
Wenn von dem einen nur der andre wird verſtanden.
Der eine fuͤhlt ſich klug, den andern zu verſtehn;
Dem andern iſt's genug, verſtanden ſich zu ſehn.
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