Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 4. Leipzig, 1838.151. Ich saß am Busch und sah hervor ein Häslein schlupfen, Das fieng im Abendschein sein Gräslein an zu rupfen. Die Löffel reckt' es hoch, und schob die Augen gläsern Umher, sobald ein Hauch sich regte in den Gräsern. Mich ward es nicht gewahr, und sah nicht die Gefahr, Nicht weil ich ihm verdeckt, nur weil ich reglos war. Da dacht' ich: o Natur, was dachte dein Verstand, Als deiner Schöpferhand sich dies Geschöpf entwand? Begabt mit jedem Sinn, mit jedem blind und taub, Vorm Feinde rasch zur Flucht, doch stets des Feindes Raub. Es lockt der Abendschein aus dumpfem Wald hervor, Mit Zittern gras't's und blickt vom Futter nicht empor. Ich blick' empor zu Gott und dank' ihm diese Gabe, Daß ich nicht wie das Thier vorm Tod zu zittern habe. 151. Ich ſaß am Buſch und ſah hervor ein Haͤslein ſchlupfen, Das fieng im Abendſchein ſein Graͤslein an zu rupfen. Die Loͤffel reckt' es hoch, und ſchob die Augen glaͤſern Umher, ſobald ein Hauch ſich regte in den Graͤſern. Mich ward es nicht gewahr, und ſah nicht die Gefahr, Nicht weil ich ihm verdeckt, nur weil ich reglos war. Da dacht' ich: o Natur, was dachte dein Verſtand, Als deiner Schoͤpferhand ſich dies Geſchoͤpf entwand? Begabt mit jedem Sinn, mit jedem blind und taub, Vorm Feinde raſch zur Flucht, doch ſtets des Feindes Raub. Es lockt der Abendſchein aus dumpfem Wald hervor, Mit Zittern graſ't's und blickt vom Futter nicht empor. Ich blick' empor zu Gott und dank' ihm dieſe Gabe, Daß ich nicht wie das Thier vorm Tod zu zittern habe. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0119" n="109"/> <div n="2"> <head>151.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Ich ſaß am Buſch und ſah hervor ein Haͤslein ſchlupfen,</l><lb/> <l>Das fieng im Abendſchein ſein Graͤslein an zu rupfen.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Die Loͤffel reckt' es hoch, und ſchob die Augen glaͤſern</l><lb/> <l>Umher, ſobald ein Hauch ſich regte in den Graͤſern.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Mich ward es nicht gewahr, und ſah nicht die Gefahr,</l><lb/> <l>Nicht weil ich ihm verdeckt, nur weil ich reglos war.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Da dacht' ich: o Natur, was dachte dein Verſtand,</l><lb/> <l>Als deiner Schoͤpferhand ſich dies Geſchoͤpf entwand?</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Begabt mit jedem Sinn, mit jedem blind und taub,</l><lb/> <l>Vorm Feinde raſch zur Flucht, doch ſtets des Feindes Raub.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Es lockt der Abendſchein aus dumpfem Wald hervor,</l><lb/> <l>Mit Zittern graſ't's und blickt vom Futter nicht empor.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Ich blick' empor zu Gott und dank' ihm dieſe Gabe,</l><lb/> <l>Daß ich nicht wie das Thier vorm Tod zu zittern habe.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [109/0119]
151.
Ich ſaß am Buſch und ſah hervor ein Haͤslein ſchlupfen,
Das fieng im Abendſchein ſein Graͤslein an zu rupfen.
Die Loͤffel reckt' es hoch, und ſchob die Augen glaͤſern
Umher, ſobald ein Hauch ſich regte in den Graͤſern.
Mich ward es nicht gewahr, und ſah nicht die Gefahr,
Nicht weil ich ihm verdeckt, nur weil ich reglos war.
Da dacht' ich: o Natur, was dachte dein Verſtand,
Als deiner Schoͤpferhand ſich dies Geſchoͤpf entwand?
Begabt mit jedem Sinn, mit jedem blind und taub,
Vorm Feinde raſch zur Flucht, doch ſtets des Feindes Raub.
Es lockt der Abendſchein aus dumpfem Wald hervor,
Mit Zittern graſ't's und blickt vom Futter nicht empor.
Ich blick' empor zu Gott und dank' ihm dieſe Gabe,
Daß ich nicht wie das Thier vorm Tod zu zittern habe.
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