Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 3. Leipzig, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite
82.
Die Löwin gieng auf Raub, und ließ daheim zwei Jungen,
Die hatten noch kein Blut geleckt mit ihren Zungen.
Sie hatten nur die Milch der Mutterbrust gesogen,
Und ihren Kindern war der Mutter Herz gewogen.
Sie schlang den blut'gen Raub nun mit zwiefacher Lust,
Um ihrem Paar mit Milch zu füllen jede Brust.
Doch als sie heim nun kam, war ihr zuvorgekommen
Ein kühner Jäger, der die Jungen weggenommen.
Die Löwin, wie sie sah sich ihrer Brut beraubt,
Wie hat sie mit Gebrüll den Wald durchras't, durchschnaubt!
Die Aeffin auf dem Baum (sie hielt im Arm ein Kind)
Sah zu, und rief: Warum tobst du so ungelind?
Sie sprach: Wie sollt' ich nicht, wenn ihre Lust die Affen
Behalten, und ich mir die meine sah entraffen?
Die Aeffin sprach: Mög' ich stets meine Freude sehn!
Dir aber ist villeicht verdientes Leid geschehn.
Rückert, Lehrgedicht III. 4
82.
Die Loͤwin gieng auf Raub, und ließ daheim zwei Jungen,
Die hatten noch kein Blut geleckt mit ihren Zungen.
Sie hatten nur die Milch der Mutterbruſt geſogen,
Und ihren Kindern war der Mutter Herz gewogen.
Sie ſchlang den blut'gen Raub nun mit zwiefacher Luſt,
Um ihrem Paar mit Milch zu fuͤllen jede Bruſt.
Doch als ſie heim nun kam, war ihr zuvorgekommen
Ein kuͤhner Jaͤger, der die Jungen weggenommen.
Die Loͤwin, wie ſie ſah ſich ihrer Brut beraubt,
Wie hat ſie mit Gebruͤll den Wald durchraſ't, durchſchnaubt!
Die Aeffin auf dem Baum (ſie hielt im Arm ein Kind)
Sah zu, und rief: Warum tobſt du ſo ungelind?
Sie ſprach: Wie ſollt' ich nicht, wenn ihre Luſt die Affen
Behalten, und ich mir die meine ſah entraffen?
Die Aeffin ſprach: Moͤg' ich ſtets meine Freude ſehn!
Dir aber iſt villeicht verdientes Leid geſchehn.
Rückert, Lehrgedicht III. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0083" n="73"/>
        <div n="2">
          <head>82.</head><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Die Lo&#x0364;win gieng auf Raub, und ließ daheim zwei Jungen,</l><lb/>
              <l>Die hatten noch kein Blut geleckt mit ihren Zungen.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Sie hatten nur die Milch der Mutterbru&#x017F;t ge&#x017F;ogen,</l><lb/>
              <l>Und ihren Kindern war der Mutter Herz gewogen.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="3">
              <l>Sie &#x017F;chlang den blut'gen Raub nun mit zwiefacher Lu&#x017F;t,</l><lb/>
              <l>Um ihrem Paar mit Milch zu fu&#x0364;llen jede Bru&#x017F;t.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="4">
              <l>Doch als &#x017F;ie heim nun kam, war ihr zuvorgekommen</l><lb/>
              <l>Ein ku&#x0364;hner Ja&#x0364;ger, der die Jungen weggenommen.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="5">
              <l>Die Lo&#x0364;win, wie &#x017F;ie &#x017F;ah &#x017F;ich ihrer Brut beraubt,</l><lb/>
              <l>Wie hat &#x017F;ie mit Gebru&#x0364;ll den Wald durchra&#x017F;'t, durch&#x017F;chnaubt!</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="6">
              <l>Die Aeffin auf dem Baum (&#x017F;ie hielt im Arm ein Kind)</l><lb/>
              <l>Sah zu, und rief: Warum tob&#x017F;t du &#x017F;o ungelind?</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="7">
              <l>Sie &#x017F;prach: Wie &#x017F;ollt' ich nicht, wenn ihre Lu&#x017F;t die Affen</l><lb/>
              <l>Behalten, und ich mir die meine &#x017F;ah entraffen?</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="8">
              <l>Die Aeffin &#x017F;prach: Mo&#x0364;g' ich &#x017F;tets meine Freude &#x017F;ehn!</l><lb/>
              <l>Dir aber i&#x017F;t villeicht verdientes Leid ge&#x017F;chehn.</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">Rückert, Lehrgedicht III. 4</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0083] 82. Die Loͤwin gieng auf Raub, und ließ daheim zwei Jungen, Die hatten noch kein Blut geleckt mit ihren Zungen. Sie hatten nur die Milch der Mutterbruſt geſogen, Und ihren Kindern war der Mutter Herz gewogen. Sie ſchlang den blut'gen Raub nun mit zwiefacher Luſt, Um ihrem Paar mit Milch zu fuͤllen jede Bruſt. Doch als ſie heim nun kam, war ihr zuvorgekommen Ein kuͤhner Jaͤger, der die Jungen weggenommen. Die Loͤwin, wie ſie ſah ſich ihrer Brut beraubt, Wie hat ſie mit Gebruͤll den Wald durchraſ't, durchſchnaubt! Die Aeffin auf dem Baum (ſie hielt im Arm ein Kind) Sah zu, und rief: Warum tobſt du ſo ungelind? Sie ſprach: Wie ſollt' ich nicht, wenn ihre Luſt die Affen Behalten, und ich mir die meine ſah entraffen? Die Aeffin ſprach: Moͤg' ich ſtets meine Freude ſehn! Dir aber iſt villeicht verdientes Leid geſchehn. Rückert, Lehrgedicht III. 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane03_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane03_1837/83
Zitationshilfe: Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 3. Leipzig, 1837, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane03_1837/83>, abgerufen am 23.11.2024.