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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Vorwort.

Dieses Buch will, indem es die Meinungen der Griechen
von dem Leben der menschlichen Seele nach dem Tode darlegt,
einen Beitrag zu einer Geschichte griechischer Religion geben.
Ein solches Unternehmen hat in besonderem Maasse mit den
Schwierigkeiten zu kämpfen, die einer jeden Untersuchung des
religiösen Gedankenlebens der Griechen sich entgegenstellen. Die
griechische Religion, als eine gewordene, nicht gestiftete Reli-
gion, hat den Gedanken und Gefühlen, die sie von innen be-
stimmen und nach aussen gestalten, niemals begrifflichen Aus-
druck gegeben. In religiösen Handlungen allein stellte sie sich
dar; sie hat keine Religionsbücher, aus denen der tiefste Sinn
und der Zusammenhang der Gedanken, in denen der Grieche zu
den göttlichen Mächten, die sein Glaube ihm schuf, in Beziehung
trat, sich ablesen liesse. Gedanken und Phantasie griechischer
Dichter umspielen den, trotz des Mangels begrifflicher Entwick-
lung, oder vielleicht eben deswegen, wunderbar sicher bei seiner
ursprünglichen Art verharrenden Kern griechischer Volksreligion.
Dichter und Philosophen bieten in dem, was von ihren Schriften
auf unsere Zeit gekommen ist, die einzigen Urkunden griechi-
schen religiösen Gedankenlebens dar. Sie mussten auch bei der
hier unternommenen Forschung auf lange Strecken die Führer
sein. Aber wenn auch, in griechischen Lebensverhältnissen, die
religiösen Anschauungen der Dichter und Philosophen schon an
und für sich einen wichtigen Theil griechischer Religion über-
haupt darstellen, so lassen sie doch immer nur die Stellung er-
kennen, die der Einzelne, in voller Freiheit der Entscheidung,

Vorwort.

Dieses Buch will, indem es die Meinungen der Griechen
von dem Leben der menschlichen Seele nach dem Tode darlegt,
einen Beitrag zu einer Geschichte griechischer Religion geben.
Ein solches Unternehmen hat in besonderem Maasse mit den
Schwierigkeiten zu kämpfen, die einer jeden Untersuchung des
religiösen Gedankenlebens der Griechen sich entgegenstellen. Die
griechische Religion, als eine gewordene, nicht gestiftete Reli-
gion, hat den Gedanken und Gefühlen, die sie von innen be-
stimmen und nach aussen gestalten, niemals begrifflichen Aus-
druck gegeben. In religiösen Handlungen allein stellte sie sich
dar; sie hat keine Religionsbücher, aus denen der tiefste Sinn
und der Zusammenhang der Gedanken, in denen der Grieche zu
den göttlichen Mächten, die sein Glaube ihm schuf, in Beziehung
trat, sich ablesen liesse. Gedanken und Phantasie griechischer
Dichter umspielen den, trotz des Mangels begrifflicher Entwick-
lung, oder vielleicht eben deswegen, wunderbar sicher bei seiner
ursprünglichen Art verharrenden Kern griechischer Volksreligion.
Dichter und Philosophen bieten in dem, was von ihren Schriften
auf unsere Zeit gekommen ist, die einzigen Urkunden griechi-
schen religiösen Gedankenlebens dar. Sie mussten auch bei der
hier unternommenen Forschung auf lange Strecken die Führer
sein. Aber wenn auch, in griechischen Lebensverhältnissen, die
religiösen Anschauungen der Dichter und Philosophen schon an
und für sich einen wichtigen Theil griechischer Religion über-
haupt darstellen, so lassen sie doch immer nur die Stellung er-
kennen, die der Einzelne, in voller Freiheit der Entscheidung,

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. [III]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/11>, abgerufen am 26.04.2024.