Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

seits das Gesammtbild der unsichtbaren Welt, wie es die home-
rische Dichtung aufgebaut hatte, der Vorstellung des Volkes sich
tief einprägte, zeigt alle kommende Entwicklung griechischer
Cultur und Religion. Wenn sich abweichende Vorstellungen da-
neben erhielten, so zogen diese ihre Kraft nicht sowohl aus einer
anders gestalteten Dogmatik als aus den Voraussetzungen des
durch keine Dichterphantasie beeinflussten Cultus. Sie vor-
nehmlich konnten auch wohl einmal dahin wirken, dass inmitten
der Dichtung das dichterische Bild vom Reiche und Leben der
Unsichtbaren eine Trübung erfuhr.

III.

Eine Probe auf die Geschlossenheit und dauerhafte Zu-
sammenfügung der in homerischer Dichtung ausgebildeten Vor-
stellungen von Wesen und Zuständen der abgeschiedenen Seelen
wird noch innerhalb des Rahmens dieser Dichtung gemacht
mit der Erzählung von der Hadesfahrt des Odysseus. Eine
gefährliche Probe, sollte man denken. Wie mag sich bei einer
Schilderung des Verkehrs des lebenden Helden mit den Be-
wohnern des Schattenreichs das Wesenlose, Traumartige der
homerischen Seelenbilder festhalten lassen, das sich entschlossener
Berührung zu entziehen, jedes thätige Verhältniss zu Anderen
auszuschliessen schien? Kaum versteht man, wie es einen
Dichter reizen konnte, mit der Fackel der Phantasie in dieses
Höhlenreich ohnmächtiger Schatten hineinzuleuchten. Man be-
greift das leichter, wenn man sich deutlich macht, wie die Er-
zählung entstanden, wie sie allmählich durch Zusätze von fremder
Hand sich selber unähnlich geworden ist 1).

1.

Es darf als eines der wenigen sicheren Ergebnisse einer
kritischen Analyse der homerischen Gedichte betrachtet werden,

1) S. Anhang 4.

seits das Gesammtbild der unsichtbaren Welt, wie es die home-
rische Dichtung aufgebaut hatte, der Vorstellung des Volkes sich
tief einprägte, zeigt alle kommende Entwicklung griechischer
Cultur und Religion. Wenn sich abweichende Vorstellungen da-
neben erhielten, so zogen diese ihre Kraft nicht sowohl aus einer
anders gestalteten Dogmatik als aus den Voraussetzungen des
durch keine Dichterphantasie beeinflussten Cultus. Sie vor-
nehmlich konnten auch wohl einmal dahin wirken, dass inmitten
der Dichtung das dichterische Bild vom Reiche und Leben der
Unsichtbaren eine Trübung erfuhr.

III.

Eine Probe auf die Geschlossenheit und dauerhafte Zu-
sammenfügung der in homerischer Dichtung ausgebildeten Vor-
stellungen von Wesen und Zuständen der abgeschiedenen Seelen
wird noch innerhalb des Rahmens dieser Dichtung gemacht
mit der Erzählung von der Hadesfahrt des Odysseus. Eine
gefährliche Probe, sollte man denken. Wie mag sich bei einer
Schilderung des Verkehrs des lebenden Helden mit den Be-
wohnern des Schattenreichs das Wesenlose, Traumartige der
homerischen Seelenbilder festhalten lassen, das sich entschlossener
Berührung zu entziehen, jedes thätige Verhältniss zu Anderen
auszuschliessen schien? Kaum versteht man, wie es einen
Dichter reizen konnte, mit der Fackel der Phantasie in dieses
Höhlenreich ohnmächtiger Schatten hineinzuleuchten. Man be-
greift das leichter, wenn man sich deutlich macht, wie die Er-
zählung entstanden, wie sie allmählich durch Zusätze von fremder
Hand sich selber unähnlich geworden ist 1).

1.

Es darf als eines der wenigen sicheren Ergebnisse einer
kritischen Analyse der homerischen Gedichte betrachtet werden,

1) S. Anhang 4.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0061" n="45"/>
seits das Gesammtbild der unsichtbaren Welt, wie es die home-<lb/>
rische Dichtung aufgebaut hatte, der Vorstellung des Volkes sich<lb/>
tief einprägte, zeigt alle kommende Entwicklung griechischer<lb/>
Cultur und Religion. Wenn sich abweichende Vorstellungen da-<lb/>
neben erhielten, so zogen diese ihre Kraft nicht sowohl aus einer<lb/>
anders gestalteten Dogmatik als aus den Voraussetzungen des<lb/>
durch keine Dichterphantasie beeinflussten Cultus. Sie vor-<lb/>
nehmlich konnten auch wohl einmal dahin wirken, dass inmitten<lb/>
der Dichtung das dichterische Bild vom Reiche und Leben der<lb/>
Unsichtbaren eine Trübung erfuhr.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">III.</hi> </head><lb/>
          <p>Eine Probe auf die Geschlossenheit und dauerhafte Zu-<lb/>
sammenfügung der in homerischer Dichtung ausgebildeten Vor-<lb/>
stellungen von Wesen und Zuständen der abgeschiedenen Seelen<lb/>
wird noch innerhalb des Rahmens dieser Dichtung gemacht<lb/>
mit der Erzählung von der <hi rendition="#g">Hadesfahrt des Odysseus</hi>. Eine<lb/>
gefährliche Probe, sollte man denken. Wie mag sich bei einer<lb/>
Schilderung des Verkehrs des lebenden Helden mit den Be-<lb/>
wohnern des Schattenreichs das Wesenlose, Traumartige der<lb/>
homerischen Seelenbilder festhalten lassen, das sich entschlossener<lb/>
Berührung zu entziehen, jedes thätige Verhältniss zu Anderen<lb/>
auszuschliessen schien? Kaum versteht man, wie es einen<lb/>
Dichter reizen konnte, mit der Fackel der Phantasie in dieses<lb/>
Höhlenreich ohnmächtiger Schatten hineinzuleuchten. Man be-<lb/>
greift das leichter, wenn man sich deutlich macht, wie die Er-<lb/>
zählung entstanden, wie sie allmählich durch Zusätze von fremder<lb/>
Hand sich selber unähnlich geworden ist <note place="foot" n="1)">S. Anhang 4.</note>.</p><lb/>
          <div n="3">
            <head>1.</head><lb/>
            <p>Es darf als eines der wenigen sicheren Ergebnisse einer<lb/>
kritischen Analyse der homerischen Gedichte betrachtet werden,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[45/0061] seits das Gesammtbild der unsichtbaren Welt, wie es die home- rische Dichtung aufgebaut hatte, der Vorstellung des Volkes sich tief einprägte, zeigt alle kommende Entwicklung griechischer Cultur und Religion. Wenn sich abweichende Vorstellungen da- neben erhielten, so zogen diese ihre Kraft nicht sowohl aus einer anders gestalteten Dogmatik als aus den Voraussetzungen des durch keine Dichterphantasie beeinflussten Cultus. Sie vor- nehmlich konnten auch wohl einmal dahin wirken, dass inmitten der Dichtung das dichterische Bild vom Reiche und Leben der Unsichtbaren eine Trübung erfuhr. III. Eine Probe auf die Geschlossenheit und dauerhafte Zu- sammenfügung der in homerischer Dichtung ausgebildeten Vor- stellungen von Wesen und Zuständen der abgeschiedenen Seelen wird noch innerhalb des Rahmens dieser Dichtung gemacht mit der Erzählung von der Hadesfahrt des Odysseus. Eine gefährliche Probe, sollte man denken. Wie mag sich bei einer Schilderung des Verkehrs des lebenden Helden mit den Be- wohnern des Schattenreichs das Wesenlose, Traumartige der homerischen Seelenbilder festhalten lassen, das sich entschlossener Berührung zu entziehen, jedes thätige Verhältniss zu Anderen auszuschliessen schien? Kaum versteht man, wie es einen Dichter reizen konnte, mit der Fackel der Phantasie in dieses Höhlenreich ohnmächtiger Schatten hineinzuleuchten. Man be- greift das leichter, wenn man sich deutlich macht, wie die Er- zählung entstanden, wie sie allmählich durch Zusätze von fremder Hand sich selber unähnlich geworden ist 1). 1. Es darf als eines der wenigen sicheren Ergebnisse einer kritischen Analyse der homerischen Gedichte betrachtet werden, 1) S. Anhang 4.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/61
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/61>, abgerufen am 22.12.2024.