Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite
Philosophie.

Die orphische Lehre, in der eine religiöse Bewegung, die
seit Langem Griechenland erregt hatte, sich einen zusammen-
gefassten Ausdruck gab, könnte fast wie ein Spätling erschei-
nen, hervorgetreten zu einer Zeit in der für religiöse Deutung
der Welt und des Menschenthums kaum noch eine Stelle war.
Denn schon war im Osten, an Ioniens Küsten, eine Weltbe-
trachtung aufgegangen, die, sich selber mündig sprechend, ohne
die Leitung altüberkommenen Glaubens ihr Ziel erreichen
wollte. Was in den ionischen Seestädten, den Sammelpunkten
alles Erfahrungswissens der Menschen, an Kunde und Kennt-
niss, fremder und selbsterworbener, der "Natur", der Erde
und der Himmelskörper, der grossen Lebenserscheinungen in
dieser Welt erhabener Betrachtung zusammenströmte, das
strebte in den, ewiger Verehrung würdigen Geistern, in denen
sich damals die Naturwissenschaft und jede Wissenschaft über-
haupt zuerst begründete, nach Einheit und Gliederung, nach
Ordnung zu einem allumfassenden Ganzen. Aus Beobachtung
und ordnender Betrachtung wagte ein phantasievolles Denken
ein Bild der Welt und der gesammten Wirklichkeit sich auf-
zubauen. Und wie nun in dieser Welt nirgends ein für immer
Starres und Todtes angetroffen wurde, so drang der Gedanke
vor bis zu dem ewig Lebendigen, das dieses All erfüllt und
bewegt und immer neu erbaut, bis zu den Gesetzen, nach
denen es wirkt und wirken muss.

Hier schritt der Geist dieser ersten Pfadfinder der Welt-
weisheit voran, in voller Freiheit von aller Befangenheit in
mythisch-religiöser Vorstellungsweise. Wo der Mythus und
eine aus ihm erwachsene Theologie eine Geschichte höchster
Weltbegebenheiten sah, die sich in einzelnen und einmaligen

Philosophie.

Die orphische Lehre, in der eine religiöse Bewegung, die
seit Langem Griechenland erregt hatte, sich einen zusammen-
gefassten Ausdruck gab, könnte fast wie ein Spätling erschei-
nen, hervorgetreten zu einer Zeit in der für religiöse Deutung
der Welt und des Menschenthums kaum noch eine Stelle war.
Denn schon war im Osten, an Ioniens Küsten, eine Weltbe-
trachtung aufgegangen, die, sich selber mündig sprechend, ohne
die Leitung altüberkommenen Glaubens ihr Ziel erreichen
wollte. Was in den ionischen Seestädten, den Sammelpunkten
alles Erfahrungswissens der Menschen, an Kunde und Kennt-
niss, fremder und selbsterworbener, der „Natur“, der Erde
und der Himmelskörper, der grossen Lebenserscheinungen in
dieser Welt erhabener Betrachtung zusammenströmte, das
strebte in den, ewiger Verehrung würdigen Geistern, in denen
sich damals die Naturwissenschaft und jede Wissenschaft über-
haupt zuerst begründete, nach Einheit und Gliederung, nach
Ordnung zu einem allumfassenden Ganzen. Aus Beobachtung
und ordnender Betrachtung wagte ein phantasievolles Denken
ein Bild der Welt und der gesammten Wirklichkeit sich auf-
zubauen. Und wie nun in dieser Welt nirgends ein für immer
Starres und Todtes angetroffen wurde, so drang der Gedanke
vor bis zu dem ewig Lebendigen, das dieses All erfüllt und
bewegt und immer neu erbaut, bis zu den Gesetzen, nach
denen es wirkt und wirken muss.

Hier schritt der Geist dieser ersten Pfadfinder der Welt-
weisheit voran, in voller Freiheit von aller Befangenheit in
mythisch-religiöser Vorstellungsweise. Wo der Mythus und
eine aus ihm erwachsene Theologie eine Geschichte höchster
Weltbegebenheiten sah, die sich in einzelnen und einmaligen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0445" n="[429]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Philosophie.</hi> </head><lb/>
        <div n="2">
          <p>Die orphische Lehre, in der eine religiöse Bewegung, die<lb/>
seit Langem Griechenland erregt hatte, sich einen zusammen-<lb/>
gefassten Ausdruck gab, könnte fast wie ein Spätling erschei-<lb/>
nen, hervorgetreten zu einer Zeit in der für religiöse Deutung<lb/>
der Welt und des Menschenthums kaum noch eine Stelle war.<lb/>
Denn schon war im Osten, an Ioniens Küsten, eine Weltbe-<lb/>
trachtung aufgegangen, die, sich selber mündig sprechend, ohne<lb/>
die Leitung altüberkommenen Glaubens ihr Ziel erreichen<lb/>
wollte. Was in den ionischen Seestädten, den Sammelpunkten<lb/>
alles Erfahrungswissens der Menschen, an Kunde und Kennt-<lb/>
niss, fremder und selbsterworbener, der &#x201E;Natur&#x201C;, der Erde<lb/>
und der Himmelskörper, der grossen Lebenserscheinungen in<lb/>
dieser Welt erhabener Betrachtung zusammenströmte, das<lb/>
strebte in den, ewiger Verehrung würdigen Geistern, in denen<lb/>
sich damals die Naturwissenschaft und jede Wissenschaft über-<lb/>
haupt zuerst begründete, nach Einheit und Gliederung, nach<lb/>
Ordnung zu einem allumfassenden Ganzen. Aus Beobachtung<lb/>
und ordnender Betrachtung wagte ein phantasievolles Denken<lb/>
ein Bild der Welt und der gesammten Wirklichkeit sich auf-<lb/>
zubauen. Und wie nun in dieser Welt nirgends ein für immer<lb/>
Starres und Todtes angetroffen wurde, so drang der Gedanke<lb/>
vor bis zu dem ewig Lebendigen, das dieses All erfüllt und<lb/>
bewegt und immer neu erbaut, bis zu den Gesetzen, nach<lb/>
denen es wirkt und wirken muss.</p><lb/>
          <p>Hier schritt der Geist dieser ersten Pfadfinder der Welt-<lb/>
weisheit voran, in voller Freiheit von aller Befangenheit in<lb/>
mythisch-religiöser Vorstellungsweise. Wo der Mythus und<lb/>
eine aus ihm erwachsene Theologie eine Geschichte höchster<lb/>
Weltbegebenheiten sah, die sich in einzelnen und einmaligen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[429]/0445] Philosophie. Die orphische Lehre, in der eine religiöse Bewegung, die seit Langem Griechenland erregt hatte, sich einen zusammen- gefassten Ausdruck gab, könnte fast wie ein Spätling erschei- nen, hervorgetreten zu einer Zeit in der für religiöse Deutung der Welt und des Menschenthums kaum noch eine Stelle war. Denn schon war im Osten, an Ioniens Küsten, eine Weltbe- trachtung aufgegangen, die, sich selber mündig sprechend, ohne die Leitung altüberkommenen Glaubens ihr Ziel erreichen wollte. Was in den ionischen Seestädten, den Sammelpunkten alles Erfahrungswissens der Menschen, an Kunde und Kennt- niss, fremder und selbsterworbener, der „Natur“, der Erde und der Himmelskörper, der grossen Lebenserscheinungen in dieser Welt erhabener Betrachtung zusammenströmte, das strebte in den, ewiger Verehrung würdigen Geistern, in denen sich damals die Naturwissenschaft und jede Wissenschaft über- haupt zuerst begründete, nach Einheit und Gliederung, nach Ordnung zu einem allumfassenden Ganzen. Aus Beobachtung und ordnender Betrachtung wagte ein phantasievolles Denken ein Bild der Welt und der gesammten Wirklichkeit sich auf- zubauen. Und wie nun in dieser Welt nirgends ein für immer Starres und Todtes angetroffen wurde, so drang der Gedanke vor bis zu dem ewig Lebendigen, das dieses All erfüllt und bewegt und immer neu erbaut, bis zu den Gesetzen, nach denen es wirkt und wirken muss. Hier schritt der Geist dieser ersten Pfadfinder der Welt- weisheit voran, in voller Freiheit von aller Befangenheit in mythisch-religiöser Vorstellungsweise. Wo der Mythus und eine aus ihm erwachsene Theologie eine Geschichte höchster Weltbegebenheiten sah, die sich in einzelnen und einmaligen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/445
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. [429]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/445>, abgerufen am 21.11.2024.