Im Geistesleben der Menschen und Völker ist es nicht eben das Ausschweifende, in irgend einem Sinne Abnorme, zu dem das nachempfindende Verständniss am schwersten den Zugang fände. Man macht, in einer herkömmlichen, zu engen Formulirung griechischen Wesens befangen, es sich nicht immer deutlich, aber, wenn man sich recht darauf besonnen hat, so versteht man es im Grunde mit mässiger Mühe, wie in griechi- scher Religion, zur Zeit ihrer vollsten Entwicklung, der "Wahnsinn" (mania), eine zeitweilige Störung des psychischen Gleichgewichtes, ein Zustand der Ueberwältigung des selbst- bewussten Geistes, der "Besessenheit" durch fremde Gewalten (wie er uns beschrieben wird) als religiöse Erscheinung weit- reichende Bedeutung habe gewinnen können. Tief wirkende Bethätigung fand in Mantik und Telestik dieser Wahnsinn, der "nicht durch menschliche Krankheiten, sondern durch gött- liches Hinausversetzen aus den gewohnten Zuständen ent- steht" 1). Seine Wirkungen waren so häufig und anerkannt, dass als eine Erfahrungsthatsache Wirklichkeit und Wirksam- keit eines solchen, von körperlicher Krankheit völlig zu unter- scheidenden religiösen Wahnsinns nicht nur von Philosophen, sondern selbst von Aerzten 2) behandelt wird. Uns bleibt eigent- lich nur die Einordnung solcher "göttlichen Manie" in den regelmässig arbeitenden Betrieb des religiösen Lebens räthsel- haft; die diesem ganzen Wesen zu Grunde liegenden Em- pfindungen und Erfahrungen sind uns nach zahlreichen Ana- loga durchsichtig genug. Wollen wir die Wahrheit gestehen, so ist unserem innerlichen Mitempfinden schwerer fast als solches Ueberwallen der Empfindung und alles ihm Verwandte der entgegengesetzte Pol griechischen religiösen Lebens zu- gänglich, die in ruhiges Maass gefasste Gelassenheit, mit der
1) Plat. Phaedr. 265 A.
2) z. B. Coel. Aurelian. (d. i. Soranus) morb. chron. I § 144 ff., Are- taeus chron. pass. I 6 p. 84 K.
2.
Im Geistesleben der Menschen und Völker ist es nicht eben das Ausschweifende, in irgend einem Sinne Abnorme, zu dem das nachempfindende Verständniss am schwersten den Zugang fände. Man macht, in einer herkömmlichen, zu engen Formulirung griechischen Wesens befangen, es sich nicht immer deutlich, aber, wenn man sich recht darauf besonnen hat, so versteht man es im Grunde mit mässiger Mühe, wie in griechi- scher Religion, zur Zeit ihrer vollsten Entwicklung, der „Wahnsinn“ (μανία), eine zeitweilige Störung des psychischen Gleichgewichtes, ein Zustand der Ueberwältigung des selbst- bewussten Geistes, der „Besessenheit“ durch fremde Gewalten (wie er uns beschrieben wird) als religiöse Erscheinung weit- reichende Bedeutung habe gewinnen können. Tief wirkende Bethätigung fand in Mantik und Telestik dieser Wahnsinn, der „nicht durch menschliche Krankheiten, sondern durch gött- liches Hinausversetzen aus den gewohnten Zuständen ent- steht“ 1). Seine Wirkungen waren so häufig und anerkannt, dass als eine Erfahrungsthatsache Wirklichkeit und Wirksam- keit eines solchen, von körperlicher Krankheit völlig zu unter- scheidenden religiösen Wahnsinns nicht nur von Philosophen, sondern selbst von Aerzten 2) behandelt wird. Uns bleibt eigent- lich nur die Einordnung solcher „göttlichen Manie“ in den regelmässig arbeitenden Betrieb des religiösen Lebens räthsel- haft; die diesem ganzen Wesen zu Grunde liegenden Em- pfindungen und Erfahrungen sind uns nach zahlreichen Ana- loga durchsichtig genug. Wollen wir die Wahrheit gestehen, so ist unserem innerlichen Mitempfinden schwerer fast als solches Ueberwallen der Empfindung und alles ihm Verwandte der entgegengesetzte Pol griechischen religiösen Lebens zu- gänglich, die in ruhiges Maass gefasste Gelassenheit, mit der
1) Plat. Phaedr. 265 A.
2) z. B. Coel. Aurelian. (d. i. Soranus) morb. chron. I § 144 ff., Are- taeus chron. pass. I 6 p. 84 K.
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Im Geistesleben der Menschen und Völker ist es nicht
eben das Ausschweifende, in irgend einem Sinne Abnorme, zu
dem das nachempfindende Verständniss am schwersten den
Zugang fände. Man macht, in einer herkömmlichen, zu engen
Formulirung griechischen Wesens befangen, es sich nicht immer
deutlich, aber, wenn man sich recht darauf besonnen hat, so
versteht man es im Grunde mit mässiger Mühe, wie in griechi-
scher Religion, zur Zeit ihrer vollsten Entwicklung, der
„Wahnsinn“ (μανία), eine zeitweilige Störung des psychischen
Gleichgewichtes, ein Zustand der Ueberwältigung des selbst-
bewussten Geistes, der „Besessenheit“ durch fremde Gewalten
(wie er uns beschrieben wird) als religiöse Erscheinung weit-
reichende Bedeutung habe gewinnen können. Tief wirkende
Bethätigung fand in Mantik und Telestik dieser Wahnsinn, der
„nicht durch menschliche Krankheiten, sondern durch gött-
liches Hinausversetzen aus den gewohnten Zuständen ent-
steht“ 1). Seine Wirkungen waren so häufig und anerkannt,
dass als eine Erfahrungsthatsache Wirklichkeit und Wirksam-
keit eines solchen, von körperlicher Krankheit völlig zu unter-
scheidenden religiösen Wahnsinns nicht nur von Philosophen,
sondern selbst von Aerzten 2) behandelt wird. Uns bleibt eigent-
lich nur die Einordnung solcher „göttlichen Manie“ in den
regelmässig arbeitenden Betrieb des religiösen Lebens räthsel-
haft; die diesem ganzen Wesen zu Grunde liegenden Em-
pfindungen und Erfahrungen sind uns nach zahlreichen Ana-
loga durchsichtig genug. Wollen wir die Wahrheit gestehen,
so ist unserem innerlichen Mitempfinden schwerer fast als
solches Ueberwallen der Empfindung und alles ihm Verwandte
der entgegengesetzte Pol griechischen religiösen Lebens zu-
gänglich, die in ruhiges Maass gefasste Gelassenheit, mit der
1) Plat. Phaedr. 265 A.
2) z. B. Coel. Aurelian. (d. i. Soranus) morb. chron. I § 144 ff., Are-
taeus chron. pass. I 6 p. 84 K.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/313>, abgerufen am 22.12.2024.
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