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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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gegenüber angeben sollten, was zur Charakteristik des Momentes
gehört und was der Künstler vor- und zurückgreifend zufügt,
zeigt, dass wir mit dieser Frage einen dieser Kunstepoche frem-
den Massstab anlegen 13).

In dieser Hinsicht ist mir auch die Art, wie die archaische
Kunst die schöne Erzählung von Hektors Lösung im letzten Buche der
Ilias bildlich gestaltet, immer besonders merkwürdig erschienen 14).

13) Diese Unbestimmtheit kommt bei ausgedehnteren Kompositionen der
Kunst sogar sehr zu statten, und sie behält dieselbe daher in einzelnen
Fällen auch noch bei in Zeiten, wo die primitive Stufe im allgemeinen
überwunden ist. So Mikon bei der Marathonschlacht, Pheidias beim Parthenon-
fries. In dem Gemälde war -- das lehren die Berichte deutlich -- an der
einen Seite der Kampf noch unentschieden (kommen doch die Plataier erst
eilenden Laufes heran), in der Mitte fliehen die Perser, an der anderen
Seite war der Kampf bei den Schiffen; allein es ist ein schwerer Irr-
tum, sich dabei drei äusserlich streng geschiedene Scenen oder gar die
Gestalt des Miltiades und der übrigen Feldherren -- den Gesetzen dieser
Kunstperiode zuwider -- mehrere Male dargestellt zu denken. Wie der
Beschauer an dem ausgedehnten Gemälde vorbeischritt, nahm in gleichem
Masse die Entwickelung der Handlung ihren Fortgang. Es ist also an
Stelle der zeitlichen Unbestimmtheit der Darstellung ein zeitlicher Fortschritt
getreten. Dasselbe haben wir am Parthenonfries deutlich vor Augen; indem wir
von der Nordwestecke bis zur Mitte des Ostfrieses fortschreiten, sehen wir
die Reiter sich rüsten, aufsitzen, sich zu Gliedern ordnen, wir gehen an den
Wagen, den Opfertieren, den Mädchen vorbei, bis wir zuletzt den Peplos --
denn das ist er trotz Brunns und seiner Schüler Widerspruch -- in der Hand
des Priesters sehen. Gewiss ist das nicht gleichzeitig zu denken, sondern
unmerklich ist die Zeit fortgeschritten; aber meisterhaft hat uns Pheidias
über den Verlauf hinweggetäuscht: wir sind in demselben Falle, wie einer,
der vom Kerameikos aus neben dem sich stets bewegenden Zuge hereilt.
Erwägungen, wie die von Flasch (Über den Parthenonfries S. 94), erledigen sich
hierdurch von selbst; die Athener würden ihm, wenn sie überhaupt auf solche
Fragen sich einliessen, entgegnet haben: "die Reiter, die wir vorhin noch mit Vor-
bereitungen beschäftigt sahen, sind unterdessen längst aufgesessen und auf der
Akropolis angelangt und haben die Peplosübergabe mit angesehen". -- Man darf
sogar fragen, ob bei Kompositionen, die nicht mit einem Blick zu übersehen
sind, sondern im Weiterwandeln betrachtet sein wollen, ein solcher unmerk-
licher zeitlicher Fortschritt nicht künstlerisch geboten erscheint.
14) Von den archaischen Darstellungen dieses Typus ist leider nur eine
sehr flüchtige schwarzfigurige Lekythos publiziert (Arch. Zeit. 1854, Taf. 72).
Derselbe Typus liegt den strengen rothfigurigen Vasen (M. d. I. VIII 27 u.

gegenüber angeben sollten, was zur Charakteristik des Momentes
gehört und was der Künstler vor- und zurückgreifend zufügt,
zeigt, daſs wir mit dieser Frage einen dieser Kunstepoche frem-
den Maſsstab anlegen 13).

In dieser Hinsicht ist mir auch die Art, wie die archaische
Kunst die schöne Erzählung von Hektors Lösung im letzten Buche der
Ilias bildlich gestaltet, immer besonders merkwürdig erschienen 14).

13) Diese Unbestimmtheit kommt bei ausgedehnteren Kompositionen der
Kunst sogar sehr zu statten, und sie behält dieselbe daher in einzelnen
Fällen auch noch bei in Zeiten, wo die primitive Stufe im allgemeinen
überwunden ist. So Mikon bei der Marathonschlacht, Pheidias beim Parthenon-
fries. In dem Gemälde war — das lehren die Berichte deutlich — an der
einen Seite der Kampf noch unentschieden (kommen doch die Plataier erst
eilenden Laufes heran), in der Mitte fliehen die Perser, an der anderen
Seite war der Kampf bei den Schiffen; allein es ist ein schwerer Irr-
tum, sich dabei drei äuſserlich streng geschiedene Scenen oder gar die
Gestalt des Miltiades und der übrigen Feldherren — den Gesetzen dieser
Kunstperiode zuwider — mehrere Male dargestellt zu denken. Wie der
Beschauer an dem ausgedehnten Gemälde vorbeischritt, nahm in gleichem
Maſse die Entwickelung der Handlung ihren Fortgang. Es ist also an
Stelle der zeitlichen Unbestimmtheit der Darstellung ein zeitlicher Fortschritt
getreten. Dasselbe haben wir am Parthenonfries deutlich vor Augen; indem wir
von der Nordwestecke bis zur Mitte des Ostfrieses fortschreiten, sehen wir
die Reiter sich rüsten, aufsitzen, sich zu Gliedern ordnen, wir gehen an den
Wagen, den Opfertieren, den Mädchen vorbei, bis wir zuletzt den Peplos —
denn das ist er trotz Brunns und seiner Schüler Widerspruch — in der Hand
des Priesters sehen. Gewiſs ist das nicht gleichzeitig zu denken, sondern
unmerklich ist die Zeit fortgeschritten; aber meisterhaft hat uns Pheidias
über den Verlauf hinweggetäuscht: wir sind in demselben Falle, wie einer,
der vom Kerameikos aus neben dem sich stets bewegenden Zuge hereilt.
Erwägungen, wie die von Flasch (Über den Parthenonfries S. 94), erledigen sich
hierdurch von selbst; die Athener würden ihm, wenn sie überhaupt auf solche
Fragen sich einlieſsen, entgegnet haben: „die Reiter, die wir vorhin noch mit Vor-
bereitungen beschäftigt sahen, sind unterdessen längst aufgesessen und auf der
Akropolis angelangt und haben die Peplosübergabe mit angesehen“. — Man darf
sogar fragen, ob bei Kompositionen, die nicht mit einem Blick zu übersehen
sind, sondern im Weiterwandeln betrachtet sein wollen, ein solcher unmerk-
licher zeitlicher Fortschritt nicht künstlerisch geboten erscheint.
14) Von den archaischen Darstellungen dieses Typus ist leider nur eine
sehr flüchtige schwarzfigurige Lekythos publiziert (Arch. Zeit. 1854, Taf. 72).
Derselbe Typus liegt den strengen rothfigurigen Vasen (M. d. I. VIII 27 u.
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[18/0032] gegenüber angeben sollten, was zur Charakteristik des Momentes gehört und was der Künstler vor- und zurückgreifend zufügt, zeigt, daſs wir mit dieser Frage einen dieser Kunstepoche frem- den Maſsstab anlegen 13). In dieser Hinsicht ist mir auch die Art, wie die archaische Kunst die schöne Erzählung von Hektors Lösung im letzten Buche der Ilias bildlich gestaltet, immer besonders merkwürdig erschienen 14). 13) Diese Unbestimmtheit kommt bei ausgedehnteren Kompositionen der Kunst sogar sehr zu statten, und sie behält dieselbe daher in einzelnen Fällen auch noch bei in Zeiten, wo die primitive Stufe im allgemeinen überwunden ist. So Mikon bei der Marathonschlacht, Pheidias beim Parthenon- fries. In dem Gemälde war — das lehren die Berichte deutlich — an der einen Seite der Kampf noch unentschieden (kommen doch die Plataier erst eilenden Laufes heran), in der Mitte fliehen die Perser, an der anderen Seite war der Kampf bei den Schiffen; allein es ist ein schwerer Irr- tum, sich dabei drei äuſserlich streng geschiedene Scenen oder gar die Gestalt des Miltiades und der übrigen Feldherren — den Gesetzen dieser Kunstperiode zuwider — mehrere Male dargestellt zu denken. Wie der Beschauer an dem ausgedehnten Gemälde vorbeischritt, nahm in gleichem Maſse die Entwickelung der Handlung ihren Fortgang. Es ist also an Stelle der zeitlichen Unbestimmtheit der Darstellung ein zeitlicher Fortschritt getreten. Dasselbe haben wir am Parthenonfries deutlich vor Augen; indem wir von der Nordwestecke bis zur Mitte des Ostfrieses fortschreiten, sehen wir die Reiter sich rüsten, aufsitzen, sich zu Gliedern ordnen, wir gehen an den Wagen, den Opfertieren, den Mädchen vorbei, bis wir zuletzt den Peplos — denn das ist er trotz Brunns und seiner Schüler Widerspruch — in der Hand des Priesters sehen. Gewiſs ist das nicht gleichzeitig zu denken, sondern unmerklich ist die Zeit fortgeschritten; aber meisterhaft hat uns Pheidias über den Verlauf hinweggetäuscht: wir sind in demselben Falle, wie einer, der vom Kerameikos aus neben dem sich stets bewegenden Zuge hereilt. Erwägungen, wie die von Flasch (Über den Parthenonfries S. 94), erledigen sich hierdurch von selbst; die Athener würden ihm, wenn sie überhaupt auf solche Fragen sich einlieſsen, entgegnet haben: „die Reiter, die wir vorhin noch mit Vor- bereitungen beschäftigt sahen, sind unterdessen längst aufgesessen und auf der Akropolis angelangt und haben die Peplosübergabe mit angesehen“. — Man darf sogar fragen, ob bei Kompositionen, die nicht mit einem Blick zu übersehen sind, sondern im Weiterwandeln betrachtet sein wollen, ein solcher unmerk- licher zeitlicher Fortschritt nicht künstlerisch geboten erscheint. 14) Von den archaischen Darstellungen dieses Typus ist leider nur eine sehr flüchtige schwarzfigurige Lekythos publiziert (Arch. Zeit. 1854, Taf. 72). Derselbe Typus liegt den strengen rothfigurigen Vasen (M. d. I. VIII 27 u.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/32>, abgerufen am 27.04.2024.