Die oben (S. 94) bei Gelegenheit der Deutung der Brygos- schale ausgesprochene Behauptung, dass die uns geläufige Sage von der Aussetzung und Wiedererkennung des Paris dem Epos fremd und erst im fünften Jahrhundert entstanden sei, wird zu- nächst gewiss manchem Leser bedenklich erscheinen. Die Sagen- version, die den späteren Kunstwerken zu Grunde liegt und welche, wie teils die Bruchstücke teils andere Anzeichen lehren, von Sopho- kles und Euripides in ihrem Alexandros dramatisch behandelt war, hat man sich nach Welckers Vorgang (Ep. Cykl. II S. 90) gewöhnt, auch für die Kyprien vorauszusetzen, obgleich Proklos von dem Vor- gang schweigt. Welckers Argumentation ist folgende: Paris "ist bei ihm (Proklos) wie nach den Bruchstücken selbst, als er richtet, auf dem Ida in ländlicher Abgeschiedenheit, ... nicht in der Stadt, wo die Scene sich gar nicht denken lässt, und nachher wahrsagt ihm Helenos, sein Bruder, der zu dem freien Landmanne, dem unbekannten Heerdenbesitzer und Jäger im Gebirge keine Be- ziehung hatte. Demnach hatte die Tragödie Alexandros von Sophokles und Euripides in den Kyprien ihre Grundlage, wie viel auch hinzugedichtet sein mag. Paris, der von Hekabe ausgesetzt und von Hirten im Gebirg erzogen worden war, folgt seinem ihm weggeführten Stier in die Königsburg, wird zu den Wett- kämpfen zugelassen, als Sieger erkannt und wider die Wahr- sagung der Kassandra in seine Familie aufgenommen". Allein
EXCURS IV.
DIE JUGEND DES PARIS.
Die oben (S. 94) bei Gelegenheit der Deutung der Brygos- schale ausgesprochene Behauptung, daſs die uns geläufige Sage von der Aussetzung und Wiedererkennung des Paris dem Epos fremd und erst im fünften Jahrhundert entstanden sei, wird zu- nächst gewiſs manchem Leser bedenklich erscheinen. Die Sagen- version, die den späteren Kunstwerken zu Grunde liegt und welche, wie teils die Bruchstücke teils andere Anzeichen lehren, von Sopho- kles und Euripides in ihrem Alexandros dramatisch behandelt war, hat man sich nach Welckers Vorgang (Ep. Cykl. II S. 90) gewöhnt, auch für die Kyprien vorauszusetzen, obgleich Proklos von dem Vor- gang schweigt. Welckers Argumentation ist folgende: Paris „ist bei ihm (Proklos) wie nach den Bruchstücken selbst, als er richtet, auf dem Ida in ländlicher Abgeschiedenheit, … nicht in der Stadt, wo die Scene sich gar nicht denken läſst, und nachher wahrsagt ihm Helenos, sein Bruder, der zu dem freien Landmanne, dem unbekannten Heerdenbesitzer und Jäger im Gebirge keine Be- ziehung hatte. Demnach hatte die Tragödie Alexandros von Sophokles und Euripides in den Kyprien ihre Grundlage, wie viel auch hinzugedichtet sein mag. Paris, der von Hekabe ausgesetzt und von Hirten im Gebirg erzogen worden war, folgt seinem ihm weggeführten Stier in die Königsburg, wird zu den Wett- kämpfen zugelassen, als Sieger erkannt und wider die Wahr- sagung der Kassandra in seine Familie aufgenommen“. Allein
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EXCURS IV.
DIE JUGEND DES PARIS.
Die oben (S. 94) bei Gelegenheit der Deutung der Brygos-
schale ausgesprochene Behauptung, daſs die uns geläufige Sage
von der Aussetzung und Wiedererkennung des Paris dem Epos
fremd und erst im fünften Jahrhundert entstanden sei, wird zu-
nächst gewiſs manchem Leser bedenklich erscheinen. Die Sagen-
version, die den späteren Kunstwerken zu Grunde liegt und welche,
wie teils die Bruchstücke teils andere Anzeichen lehren, von Sopho-
kles und Euripides in ihrem Alexandros dramatisch behandelt war,
hat man sich nach Welckers Vorgang (Ep. Cykl. II S. 90) gewöhnt,
auch für die Kyprien vorauszusetzen, obgleich Proklos von dem Vor-
gang schweigt. Welckers Argumentation ist folgende: Paris „ist bei
ihm (Proklos) wie nach den Bruchstücken selbst, als er richtet, auf
dem Ida in ländlicher Abgeschiedenheit, … nicht in der Stadt,
wo die Scene sich gar nicht denken läſst, und nachher wahrsagt
ihm Helenos, sein Bruder, der zu dem freien Landmanne, dem
unbekannten Heerdenbesitzer und Jäger im Gebirge keine Be-
ziehung hatte. Demnach hatte die Tragödie Alexandros von
Sophokles und Euripides in den Kyprien ihre Grundlage, wie viel
auch hinzugedichtet sein mag. Paris, der von Hekabe ausgesetzt
und von Hirten im Gebirg erzogen worden war, folgt seinem
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kämpfen zugelassen, als Sieger erkannt und wider die Wahr-
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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. [233]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/247>, abgerufen am 04.03.2025.
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