den allgemeinen Schluß machen, daß kein Frauen- zimmer in der Welt einem dreisten Liebhaber wider- stehen kann.
Jch bekomme eben einen Boten von meinem Onck- le, dem der kalte Brand schon bis an die Kniee getre- ten ist, und der nicht lange mehr leben kann, wie die Wund-Aertzte sagen. Er verlanget deswegen, daß ich (nach seinem fürchterlichen Ausdruck) so gleich kommen, und ihm die Augen zudrücken soll. Es wird daher sein oder mein Bedienter alle Tage nach London reiten müssen; und er soll sich immer bey dir erkundigen, ob du Briefe zu bestellen, oder sonst etwas zu befehlen hast. Wenn du jetzt so oft an mich schreibest, als du kannst, so thust du ein Liebes- Werck: denn ob mir gleich vieles durch meines On- ckels Tod zufällt, so mag ich doch sehr ungern den Tod und den Doctor so nahe bey mir sehen. Jch sollte billig umgekehrt gesagt haben: den Doctor und den Tod, denn dieses ist die natürliche Ordnung: der eine ist gemeiniglich ein Vorbote des andern.
Wenn Sie mir diese Gefälligkeit nicht erzeigen, so werde ich befürchten, daß Sie meine Freyheit un- gütig gedeutet haben. Allein derjenige, der sich nicht schämt zu sündigen, hat kein Recht darüber un- gehalten zu seyn, wenn ihm wegen seiner Versündi- gungen zugeredet wird.
J. Belford.
Der acht und siebenzigste Brief von Fräulein Clarissa Harlowe an Fräulein Howe.
Jch
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den allgemeinen Schluß machen, daß kein Frauen- zimmer in der Welt einem dreiſten Liebhaber wider- ſtehen kann.
Jch bekomme eben einen Boten von meinem Onck- le, dem der kalte Brand ſchon bis an die Kniee getre- ten iſt, und der nicht lange mehr leben kann, wie die Wund-Aertzte ſagen. Er verlanget deswegen, daß ich (nach ſeinem fuͤrchterlichen Ausdruck) ſo gleich kommen, und ihm die Augen zudruͤcken ſoll. Es wird daher ſein oder mein Bedienter alle Tage nach London reiten muͤſſen; und er ſoll ſich immer bey dir erkundigen, ob du Briefe zu beſtellen, oder ſonſt etwas zu befehlen haſt. Wenn du jetzt ſo oft an mich ſchreibeſt, als du kannſt, ſo thuſt du ein Liebes- Werck: denn ob mir gleich vieles durch meines On- ckels Tod zufaͤllt, ſo mag ich doch ſehr ungern den Tod und den Doctor ſo nahe bey mir ſehen. Jch ſollte billig umgekehrt geſagt haben: den Doctor und den Tod, denn dieſes iſt die natuͤrliche Ordnung: der eine iſt gemeiniglich ein Vorbote des andern.
Wenn Sie mir dieſe Gefaͤlligkeit nicht erzeigen, ſo werde ich befuͤrchten, daß Sie meine Freyheit un- guͤtig gedeutet haben. Allein derjenige, der ſich nicht ſchaͤmt zu ſuͤndigen, hat kein Recht daruͤber un- gehalten zu ſeyn, wenn ihm wegen ſeiner Verſuͤndi- gungen zugeredet wird.
J. Belford.
Der acht und ſiebenzigſte Brief von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe.
Jch
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den allgemeinen Schluß machen, daß kein Frauen-
zimmer in der Welt einem dreiſten Liebhaber wider-
ſtehen kann.
Jch bekomme eben einen Boten von meinem Onck-
le, dem der kalte Brand ſchon bis an die Kniee getre-
ten iſt, und der nicht lange mehr leben kann, wie die
Wund-Aertzte ſagen. Er verlanget deswegen, daß
ich (nach ſeinem fuͤrchterlichen Ausdruck) ſo gleich
kommen, und ihm die Augen zudruͤcken ſoll. Es
wird daher ſein oder mein Bedienter alle Tage nach
London reiten muͤſſen; und er ſoll ſich immer bey
dir erkundigen, ob du Briefe zu beſtellen, oder ſonſt
etwas zu befehlen haſt. Wenn du jetzt ſo oft an mich
ſchreibeſt, als du kannſt, ſo thuſt du ein Liebes-
Werck: denn ob mir gleich vieles durch meines On-
ckels Tod zufaͤllt, ſo mag ich doch ſehr ungern den
Tod und den Doctor ſo nahe bey mir ſehen. Jch
ſollte billig umgekehrt geſagt haben: den Doctor
und den Tod, denn dieſes iſt die natuͤrliche Ordnung:
der eine iſt gemeiniglich ein Vorbote des andern.
Wenn Sie mir dieſe Gefaͤlligkeit nicht erzeigen,
ſo werde ich befuͤrchten, daß Sie meine Freyheit un-
guͤtig gedeutet haben. Allein derjenige, der ſich
nicht ſchaͤmt zu ſuͤndigen, hat kein Recht daruͤber un-
gehalten zu ſeyn, wenn ihm wegen ſeiner Verſuͤndi-
gungen zugeredet wird.
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Der acht und ſiebenzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 547. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/561>, abgerufen am 21.11.2024.
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