Der vier und zwantzigste Brief von Fräulein Clarissa Harlowe an Fräulein Howe.
Freytags um 3. Uhr.
Sie machen mich voll Unwillen, Unruhe und Schrecken. Lassen Sie mir ja alle Nach- richten bald zukommen, die Sie von dem lieder- lichen Menschen erhalten können.
Sagen Sie aber nichts von Unschuld oder Einfalt des unglücklichen Mädchens. Sollte sie nicht wissen, daß das zu viel zu bedeuten hat, wenn einer, dem man sein vornehmes Herkom- men gleich bey dem ersten Anblick aus dem Ge- sicht lesen kan, er mag sich verkleiden wie er will, sie bey Tische oben an setzt, und sie auf eine so zärtliche Weise anredet? Würde ein eingezoge- nes und einfältiges Mädchen, das schon siebzehn Jahr alt ist, einem solchen Manne zu gefallen singen, der ihr fremde ist, und es nicht leugnet, daß er sich verkleidet habe? Würden ihr Vater und ihre Gros-Mutter solche Freyheiten gestat- ten, wenn sie selbst ehrliche Leute wären?
Seinen guten Freund läßt er ihr nicht zu na- he kommen! Gewiß er muß eine böse Absicht haben, wenn er sie nicht schon erreicht hat.
Wenn es nicht schon zu späte ist, so warnen Sie doch den unbedachtsamen Vater wegen der Gefahr, darin sich sein Kind befindet. Jch kan
nicht
Die Geſchichte
Der vier und zwantzigſte Brief von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe.
Freytags um 3. Uhr.
Sie machen mich voll Unwillen, Unruhe und Schrecken. Laſſen Sie mir ja alle Nach- richten bald zukommen, die Sie von dem lieder- lichen Menſchen erhalten koͤnnen.
Sagen Sie aber nichts von Unſchuld oder Einfalt des ungluͤcklichen Maͤdchens. Sollte ſie nicht wiſſen, daß das zu viel zu bedeuten hat, wenn einer, dem man ſein vornehmes Herkom- men gleich bey dem erſten Anblick aus dem Ge- ſicht leſen kan, er mag ſich verkleiden wie er will, ſie bey Tiſche oben an ſetzt, und ſie auf eine ſo zaͤrtliche Weiſe anredet? Wuͤrde ein eingezoge- nes und einfaͤltiges Maͤdchen, das ſchon ſiebzehn Jahr alt iſt, einem ſolchen Manne zu gefallen ſingen, der ihr fremde iſt, und es nicht leugnet, daß er ſich verkleidet habe? Wuͤrden ihr Vater und ihre Gros-Mutter ſolche Freyheiten geſtat- ten, wenn ſie ſelbſt ehrliche Leute waͤren?
Seinen guten Freund laͤßt er ihr nicht zu na- he kommen! Gewiß er muß eine boͤſe Abſicht haben, wenn er ſie nicht ſchon erreicht hat.
Wenn es nicht ſchon zu ſpaͤte iſt, ſo warnen Sie doch den unbedachtſamen Vater wegen der Gefahr, darin ſich ſein Kind befindet. Jch kan
nicht
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Die Geſchichte
Der vier und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Freytags um 3. Uhr.
Sie machen mich voll Unwillen, Unruhe und
Schrecken. Laſſen Sie mir ja alle Nach-
richten bald zukommen, die Sie von dem lieder-
lichen Menſchen erhalten koͤnnen.
Sagen Sie aber nichts von Unſchuld oder
Einfalt des ungluͤcklichen Maͤdchens. Sollte
ſie nicht wiſſen, daß das zu viel zu bedeuten hat,
wenn einer, dem man ſein vornehmes Herkom-
men gleich bey dem erſten Anblick aus dem Ge-
ſicht leſen kan, er mag ſich verkleiden wie er will,
ſie bey Tiſche oben an ſetzt, und ſie auf eine ſo
zaͤrtliche Weiſe anredet? Wuͤrde ein eingezoge-
nes und einfaͤltiges Maͤdchen, das ſchon ſiebzehn
Jahr alt iſt, einem ſolchen Manne zu gefallen
ſingen, der ihr fremde iſt, und es nicht leugnet,
daß er ſich verkleidet habe? Wuͤrden ihr Vater
und ihre Gros-Mutter ſolche Freyheiten geſtat-
ten, wenn ſie ſelbſt ehrliche Leute waͤren?
Seinen guten Freund laͤßt er ihr nicht zu na-
he kommen! Gewiß er muß eine boͤſe Abſicht
haben, wenn er ſie nicht ſchon erreicht hat.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/256>, abgerufen am 30.12.2024.
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