Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite
der Clarissa.

Hierauf versetzte sie: Ein unverschämtes, eite-
les, eingebildetes junges Ding! Nach eurer tie-
fen Weisheit wisset ihr nur allein, was sich schi-
cket, und was recht ist. Jch für mein Theil habe
schon lange Zeit durch eure Larve hindurch gesehen,
und nun werdet ihr jedermann verrathen, wie
ihr im Hertzen beschaffen seyd.

Jch kehrte Augen und Hände gen Himmel, und
sagte: liebe liebe Schwester, warum - -?

Nichts von liebe Schwester! antwortete sie.
Jch versichre euch, ihr blendet mich nicht durch
eure Zauberey. Dis war ihr Ausdruck, und
damit lief sie weg, und rief mir rücklings zu: Es
wird euch bald ein jeder so gut kennen, als ich
euch kenne.

Behüte GOtt! dachte ich, was habe ich für
eine Schwester? wodurch habe ich alles dieses
verdient. Jch bedaurte hiebey von neuen, daß
mein Großvater mich aus allzu grosser Liebe mei-
nen übrigen Geschwistern in der Erbschaft vorge-
zogen hat.


Jch weiß nicht, was mein Bruder und meine
Schwester wider mich mögen angebracht haben.
Mein Vater ist sehr zornig auf mich. Jch ward
zum Thee gerufen, und gieng mit einem frölichen
Gesicht hinunter: Allein ich hatte bald Ursach be-
trübt auszusehen. Alle nahmen ein ernsthafftes
und vornehmes Gesicht an. Meine Mutter sa-
he beständig auf den Thee-Topf: wenn sie ja auf-

sahe,
der Clariſſa.

Hierauf verſetzte ſie: Ein unverſchaͤmtes, eite-
les, eingebildetes junges Ding! Nach eurer tie-
fen Weisheit wiſſet ihr nur allein, was ſich ſchi-
cket, und was recht iſt. Jch fuͤr mein Theil habe
ſchon lange Zeit durch eure Larve hindurch geſehen,
und nun werdet ihr jedermann verrathen, wie
ihr im Hertzen beſchaffen ſeyd.

Jch kehrte Augen und Haͤnde gen Himmel, und
ſagte: liebe liebe Schweſter, warum ‒ ‒?

Nichts von liebe Schweſter! antwortete ſie.
Jch verſichre euch, ihr blendet mich nicht durch
eure Zauberey. Dis war ihr Ausdruck, und
damit lief ſie weg, und rief mir ruͤcklings zu: Es
wird euch bald ein jeder ſo gut kennen, als ich
euch kenne.

Behuͤte GOtt! dachte ich, was habe ich fuͤr
eine Schweſter? wodurch habe ich alles dieſes
verdient. Jch bedaurte hiebey von neuen, daß
mein Großvater mich aus allzu groſſer Liebe mei-
nen uͤbrigen Geſchwiſtern in der Erbſchaft vorge-
zogen hat.


Jch weiß nicht, was mein Bruder und meine
Schweſter wider mich moͤgen angebracht haben.
Mein Vater iſt ſehr zornig auf mich. Jch ward
zum Thee gerufen, und gieng mit einem froͤlichen
Geſicht hinunter: Allein ich hatte bald Urſach be-
truͤbt auszuſehen. Alle nahmen ein ernſthafftes
und vornehmes Geſicht an. Meine Mutter ſa-
he beſtaͤndig auf den Thee-Topf: wenn ſie ja auf-

ſahe,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <pb facs="#f0097" n="77"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a.</hi> </hi> </fw><lb/>
        <p>Hierauf ver&#x017F;etzte &#x017F;ie: Ein unver&#x017F;cha&#x0364;mtes, eite-<lb/>
les, eingebildetes junges Ding! Nach eurer tie-<lb/>
fen Weisheit wi&#x017F;&#x017F;et ihr nur allein, was &#x017F;ich &#x017F;chi-<lb/>
cket, und was recht i&#x017F;t. Jch fu&#x0364;r mein Theil habe<lb/>
&#x017F;chon lange Zeit durch eure Larve hindurch ge&#x017F;ehen,<lb/>
und nun werdet ihr jedermann verrathen, wie<lb/>
ihr im Hertzen be&#x017F;chaffen &#x017F;eyd.</p><lb/>
        <p>Jch kehrte Augen und Ha&#x0364;nde gen Himmel, und<lb/>
&#x017F;agte: liebe liebe Schwe&#x017F;ter, warum &#x2012; &#x2012;?</p><lb/>
        <p>Nichts von <hi rendition="#fr">liebe Schwe&#x017F;ter!</hi> antwortete &#x017F;ie.<lb/>
Jch ver&#x017F;ichre euch, ihr blendet mich nicht durch<lb/>
eure <hi rendition="#fr">Zauberey.</hi> Dis war ihr Ausdruck, und<lb/>
damit lief &#x017F;ie weg, und rief mir ru&#x0364;cklings zu: Es<lb/>
wird euch bald ein jeder &#x017F;o gut kennen, als ich<lb/>
euch kenne.</p><lb/>
        <p>Behu&#x0364;te GOtt! dachte ich, was habe ich fu&#x0364;r<lb/>
eine Schwe&#x017F;ter? wodurch habe ich alles die&#x017F;es<lb/>
verdient. Jch bedaurte hiebey von neuen, daß<lb/>
mein Großvater mich aus allzu gro&#x017F;&#x017F;er Liebe mei-<lb/>
nen u&#x0364;brigen Ge&#x017F;chwi&#x017F;tern in der Erb&#x017F;chaft vorge-<lb/>
zogen hat.</p>
      </div><lb/>
      <div>
        <dateline> <hi rendition="#et">den 25. Febr. Abends.</hi> </dateline><lb/>
        <p>Jch weiß nicht, was mein Bruder und meine<lb/>
Schwe&#x017F;ter wider mich mo&#x0364;gen angebracht haben.<lb/>
Mein Vater i&#x017F;t &#x017F;ehr zornig auf mich. Jch ward<lb/>
zum Thee gerufen, und gieng mit einem fro&#x0364;lichen<lb/>
Ge&#x017F;icht hinunter: Allein ich hatte bald Ur&#x017F;ach be-<lb/>
tru&#x0364;bt auszu&#x017F;ehen. Alle nahmen ein <choice><sic>ern&#x017F;ihafftes</sic><corr>ern&#x017F;thafftes</corr></choice><lb/>
und vornehmes Ge&#x017F;icht an. Meine Mutter &#x017F;a-<lb/>
he be&#x017F;ta&#x0364;ndig auf den Thee-Topf: wenn &#x017F;ie ja auf-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ahe,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0097] der Clariſſa. Hierauf verſetzte ſie: Ein unverſchaͤmtes, eite- les, eingebildetes junges Ding! Nach eurer tie- fen Weisheit wiſſet ihr nur allein, was ſich ſchi- cket, und was recht iſt. Jch fuͤr mein Theil habe ſchon lange Zeit durch eure Larve hindurch geſehen, und nun werdet ihr jedermann verrathen, wie ihr im Hertzen beſchaffen ſeyd. Jch kehrte Augen und Haͤnde gen Himmel, und ſagte: liebe liebe Schweſter, warum ‒ ‒? Nichts von liebe Schweſter! antwortete ſie. Jch verſichre euch, ihr blendet mich nicht durch eure Zauberey. Dis war ihr Ausdruck, und damit lief ſie weg, und rief mir ruͤcklings zu: Es wird euch bald ein jeder ſo gut kennen, als ich euch kenne. Behuͤte GOtt! dachte ich, was habe ich fuͤr eine Schweſter? wodurch habe ich alles dieſes verdient. Jch bedaurte hiebey von neuen, daß mein Großvater mich aus allzu groſſer Liebe mei- nen uͤbrigen Geſchwiſtern in der Erbſchaft vorge- zogen hat. den 25. Febr. Abends. Jch weiß nicht, was mein Bruder und meine Schweſter wider mich moͤgen angebracht haben. Mein Vater iſt ſehr zornig auf mich. Jch ward zum Thee gerufen, und gieng mit einem froͤlichen Geſicht hinunter: Allein ich hatte bald Urſach be- truͤbt auszuſehen. Alle nahmen ein ernſthafftes und vornehmes Geſicht an. Meine Mutter ſa- he beſtaͤndig auf den Thee-Topf: wenn ſie ja auf- ſahe,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/97
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/97>, abgerufen am 21.11.2024.