Der achtzehnte Brief von Fräulein Clarissa Harlowe an Fräulein Howe/
Sonnabend den 4. Märtz.
Hätte man nicht hoffen sollen, daß ich etwas erhalten würde, da ich mich zu so vielem erbot, und da meiner Meynung nach das Mittel so bequem war, einen Brief-Wechsel als aus ei- genem Triebe abzubrechen, von dem ich mich sonst nicht loos machen kan, ohne meine Fami- lie in Gefahr zu setzen? Aber der Entwurff mei- nes Bruders, und meines Vaters Unleidlichkeit gegen allen Widerspruch, sind nnüberwindliche Bollwercke. Jch habe mich vergeblich bemühet, von jenem Entwurff eine Abschrifft zu erhalten: ich wollte ihn sonst aus einander gesetzt und bey Gelegenheit in seiner Blösse vorgestellet haben.
Jch bin diese gantze Nacht nicht zu Bette ge- wesen, und dennoch bin ich nicht schläffrich. Furcht, Hoffnung und Zweifel (diese unruhige Gesell- schafft) haben mir den Schlaf aus den Augen gewischt. Jch ging des Morgens zu gewöhnli- cher Zeit hinunter, und ordnete das nöthige in der Haushaltung an, damit niemand mercken möchte, daß ich die Nacht nicht geschlafen habe.
Um acht Uhr kam Schorey/ und sagte mir von wegen meiner Mutter, ich sollte zu ihr in die Stube kommen. Jch konnte meiner Mutter an den Augen ansehen, daß sie geweint hatte. Sie
schien
Die Geſchichte
Der achtzehnte Brief von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe/
Sonnabend den 4. Maͤrtz.
Haͤtte man nicht hoffen ſollen, daß ich etwas erhalten wuͤrde, da ich mich zu ſo vielem erbot, und da meiner Meynung nach das Mittel ſo bequem war, einen Brief-Wechſel als aus ei- genem Triebe abzubrechen, von dem ich mich ſonſt nicht loos machen kan, ohne meine Fami- lie in Gefahr zu ſetzen? Aber der Entwurff mei- nes Bruders, und meines Vaters Unleidlichkeit gegen allen Widerſpruch, ſind nnuͤberwindliche Bollwercke. Jch habe mich vergeblich bemuͤhet, von jenem Entwurff eine Abſchrifft zu erhalten: ich wollte ihn ſonſt aus einander geſetzt und bey Gelegenheit in ſeiner Bloͤſſe vorgeſtellet haben.
Jch bin dieſe gantze Nacht nicht zu Bette ge- weſen, und dennoch bin ich nicht ſchlaͤffrich. Furcht, Hoffnung und Zweifel (dieſe unruhige Geſell- ſchafft) haben mir den Schlaf aus den Augen gewiſcht. Jch ging des Morgens zu gewoͤhnli- cher Zeit hinunter, und ordnete das noͤthige in der Haushaltung an, damit niemand mercken moͤchte, daß ich die Nacht nicht geſchlafen habe.
Um acht Uhr kam Schorey/ und ſagte mir von wegen meiner Mutter, ich ſollte zu ihr in die Stube kommen. Jch konnte meiner Mutter an den Augen anſehen, daß ſie geweint hatte. Sie
ſchien
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Die Geſchichte
Der achtzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe/
Sonnabend den 4. Maͤrtz.
Haͤtte man nicht hoffen ſollen, daß ich etwas
erhalten wuͤrde, da ich mich zu ſo vielem
erbot, und da meiner Meynung nach das Mittel
ſo bequem war, einen Brief-Wechſel als aus ei-
genem Triebe abzubrechen, von dem ich mich
ſonſt nicht loos machen kan, ohne meine Fami-
lie in Gefahr zu ſetzen? Aber der Entwurff mei-
nes Bruders, und meines Vaters Unleidlichkeit
gegen allen Widerſpruch, ſind nnuͤberwindliche
Bollwercke. Jch habe mich vergeblich bemuͤhet,
von jenem Entwurff eine Abſchrifft zu erhalten:
ich wollte ihn ſonſt aus einander geſetzt und bey
Gelegenheit in ſeiner Bloͤſſe vorgeſtellet haben.
Jch bin dieſe gantze Nacht nicht zu Bette ge-
weſen, und dennoch bin ich nicht ſchlaͤffrich. Furcht,
Hoffnung und Zweifel (dieſe unruhige Geſell-
ſchafft) haben mir den Schlaf aus den Augen
gewiſcht. Jch ging des Morgens zu gewoͤhnli-
cher Zeit hinunter, und ordnete das noͤthige in
der Haushaltung an, damit niemand mercken
moͤchte, daß ich die Nacht nicht geſchlafen habe.
Um acht Uhr kam Schorey/ und ſagte mir
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/220>, abgerufen am 21.11.2024.
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