Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Geschichte
Der achtzehnte Brief
von
Fräulein Clarissa Harlowe an Fräulein
Howe/

Hätte man nicht hoffen sollen, daß ich etwas
erhalten würde, da ich mich zu so vielem
erbot, und da meiner Meynung nach das Mittel
so bequem war, einen Brief-Wechsel als aus ei-
genem Triebe
abzubrechen, von dem ich mich
sonst nicht loos machen kan, ohne meine Fami-
lie in Gefahr zu setzen? Aber der Entwurff mei-
nes Bruders, und meines Vaters Unleidlichkeit
gegen allen Widerspruch, sind nnüberwindliche
Bollwercke. Jch habe mich vergeblich bemühet,
von jenem Entwurff eine Abschrifft zu erhalten:
ich wollte ihn sonst aus einander gesetzt und bey
Gelegenheit in seiner Blösse vorgestellet haben.

Jch bin diese gantze Nacht nicht zu Bette ge-
wesen, und dennoch bin ich nicht schläffrich. Furcht,
Hoffnung und Zweifel (diese unruhige Gesell-
schafft) haben mir den Schlaf aus den Augen
gewischt. Jch ging des Morgens zu gewöhnli-
cher Zeit hinunter, und ordnete das nöthige in
der Haushaltung an, damit niemand mercken
möchte, daß ich die Nacht nicht geschlafen habe.

Um acht Uhr kam Schorey/ und sagte mir
von wegen meiner Mutter, ich sollte zu ihr in die
Stube kommen. Jch konnte meiner Mutter an
den Augen ansehen, daß sie geweint hatte. Sie

schien
Die Geſchichte
Der achtzehnte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe/

Haͤtte man nicht hoffen ſollen, daß ich etwas
erhalten wuͤrde, da ich mich zu ſo vielem
erbot, und da meiner Meynung nach das Mittel
ſo bequem war, einen Brief-Wechſel als aus ei-
genem Triebe
abzubrechen, von dem ich mich
ſonſt nicht loos machen kan, ohne meine Fami-
lie in Gefahr zu ſetzen? Aber der Entwurff mei-
nes Bruders, und meines Vaters Unleidlichkeit
gegen allen Widerſpruch, ſind nnuͤberwindliche
Bollwercke. Jch habe mich vergeblich bemuͤhet,
von jenem Entwurff eine Abſchrifft zu erhalten:
ich wollte ihn ſonſt aus einander geſetzt und bey
Gelegenheit in ſeiner Bloͤſſe vorgeſtellet haben.

Jch bin dieſe gantze Nacht nicht zu Bette ge-
weſen, und dennoch bin ich nicht ſchlaͤffrich. Furcht,
Hoffnung und Zweifel (dieſe unruhige Geſell-
ſchafft) haben mir den Schlaf aus den Augen
gewiſcht. Jch ging des Morgens zu gewoͤhnli-
cher Zeit hinunter, und ordnete das noͤthige in
der Haushaltung an, damit niemand mercken
moͤchte, daß ich die Nacht nicht geſchlafen habe.

Um acht Uhr kam Schorey/ und ſagte mir
von wegen meiner Mutter, ich ſollte zu ihr in die
Stube kommen. Jch konnte meiner Mutter an
den Augen anſehen, daß ſie geweint hatte. Sie

ſchien
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0220" n="200"/>
      <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi> </hi> </fw><lb/>
      <div n="2">
        <head><hi rendition="#fr">Der achtzehnte Brief</hi><lb/>
von<lb/><hi rendition="#fr">Fra&#x0364;ulein Clari&#x017F;&#x017F;a Harlowe an Fra&#x0364;ulein<lb/>
Howe/</hi></head><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#et">Sonnabend den 4. Ma&#x0364;rtz.</hi> </dateline><lb/>
        <p><hi rendition="#in">H</hi>a&#x0364;tte man nicht hoffen &#x017F;ollen, daß ich etwas<lb/>
erhalten wu&#x0364;rde, da ich mich zu &#x017F;o vielem<lb/>
erbot, und da meiner Meynung nach das Mittel<lb/>
&#x017F;o bequem war, einen Brief-Wech&#x017F;el <hi rendition="#fr">als aus ei-<lb/>
genem Triebe</hi> abzubrechen, von dem ich mich<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t nicht loos machen kan, ohne meine Fami-<lb/>
lie in Gefahr zu &#x017F;etzen? Aber der Entwurff mei-<lb/>
nes Bruders, und meines Vaters Unleidlichkeit<lb/>
gegen allen Wider&#x017F;pruch, &#x017F;ind nnu&#x0364;berwindliche<lb/>
Bollwercke. Jch habe mich vergeblich bemu&#x0364;het,<lb/>
von jenem Entwurff eine Ab&#x017F;chrifft zu erhalten:<lb/>
ich wollte ihn &#x017F;on&#x017F;t aus einander ge&#x017F;etzt und bey<lb/>
Gelegenheit in &#x017F;einer Blo&#x0364;&#x017F;&#x017F;e vorge&#x017F;tellet haben.</p><lb/>
        <p>Jch bin die&#x017F;e gantze Nacht nicht zu Bette ge-<lb/>
we&#x017F;en, und dennoch bin ich nicht &#x017F;chla&#x0364;ffrich. Furcht,<lb/>
Hoffnung und Zweifel (die&#x017F;e unruhige Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chafft) haben mir den Schlaf aus den Augen<lb/>
gewi&#x017F;cht. Jch ging des Morgens zu gewo&#x0364;hnli-<lb/>
cher Zeit hinunter, und ordnete das no&#x0364;thige in<lb/>
der Haushaltung an, damit niemand mercken<lb/>
mo&#x0364;chte, daß ich die Nacht nicht ge&#x017F;chlafen habe.</p><lb/>
        <p>Um acht Uhr kam <hi rendition="#fr">Schorey/</hi> und &#x017F;agte mir<lb/>
von wegen meiner Mutter, ich &#x017F;ollte zu ihr in die<lb/>
Stube kommen. Jch konnte meiner Mutter an<lb/>
den Augen an&#x017F;ehen, daß &#x017F;ie geweint hatte. Sie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chien</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0220] Die Geſchichte Der achtzehnte Brief von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe/ Sonnabend den 4. Maͤrtz. Haͤtte man nicht hoffen ſollen, daß ich etwas erhalten wuͤrde, da ich mich zu ſo vielem erbot, und da meiner Meynung nach das Mittel ſo bequem war, einen Brief-Wechſel als aus ei- genem Triebe abzubrechen, von dem ich mich ſonſt nicht loos machen kan, ohne meine Fami- lie in Gefahr zu ſetzen? Aber der Entwurff mei- nes Bruders, und meines Vaters Unleidlichkeit gegen allen Widerſpruch, ſind nnuͤberwindliche Bollwercke. Jch habe mich vergeblich bemuͤhet, von jenem Entwurff eine Abſchrifft zu erhalten: ich wollte ihn ſonſt aus einander geſetzt und bey Gelegenheit in ſeiner Bloͤſſe vorgeſtellet haben. Jch bin dieſe gantze Nacht nicht zu Bette ge- weſen, und dennoch bin ich nicht ſchlaͤffrich. Furcht, Hoffnung und Zweifel (dieſe unruhige Geſell- ſchafft) haben mir den Schlaf aus den Augen gewiſcht. Jch ging des Morgens zu gewoͤhnli- cher Zeit hinunter, und ordnete das noͤthige in der Haushaltung an, damit niemand mercken moͤchte, daß ich die Nacht nicht geſchlafen habe. Um acht Uhr kam Schorey/ und ſagte mir von wegen meiner Mutter, ich ſollte zu ihr in die Stube kommen. Jch konnte meiner Mutter an den Augen anſehen, daß ſie geweint hatte. Sie ſchien

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/220
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/220>, abgerufen am 21.11.2024.