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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.

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Unruhen in Wittenberg.
rirten Einsicht drangen auch sie nun zunächst auf Abände-
rungen des kirchlichen Ritus. Vor allem verwarfen sie,
weil das Sacrament ohne den Glauben keinen Sinn habe,
die Taufe der Unmündigen, die ja des Glaubens nicht fä-
hig seyen. Aber noch viel weiter giengen ihre Gedanken.
Sie hielten dafür, daß der Welt eine totale Verwüstung,
vielleicht durch die Türken, bevorstehe. Kein Priester werde
leben bleiben, selbst keiner von denen die sich jetzt verhei-
rathen, überhaupt kein Unfrommer: aber nach dieser bluti-
gen Reinigung werde das Reich Gottes eintreten, Eine
Taufe, Ein Glauben seyn. 1 Natürlich brachten Lehren die-
ser Art in Zwickau ähnliche Bewegungen und Unruhen her-
vor, wie die carlstadtischen in Wittenberg; doch nahmen sie
dort eine andre Wendung. In Zwickau stand den Neue-
rern nicht eine leicht aufzuregende akademische Jugend zur
Seite: Rath und Pfarrer behielten die Oberhand und die
Neuerer mußten die Stadt verlassen. Aber was ihnen zu
Hause nicht gelungen, hofften sie anderwärts um so voll-
ständiger durchzusetzen. Die einen begaben sich nach Prag,
um hier wo möglich die alte taboritische Gesinnung wieder
zu beleben: was ihnen denn freilich mißlang. Die andern,
auf die es uns ankommt, erschienen in Wittenberg, wo sie
in der allgemeinen Aufregung der Geister, die nach einem
Unbekannten Neuen trachteten, in dem Ubergewicht der Ge-
meine und Jugend über den Rath der Stadt und den Se-
nat der Universität einen für ihre Saat vortrefflich vor-
bereiteten Boden fanden.


533: aus der man zugleich sieht, daß die Leute ein Halbjahr früher
sich der göttlichen Gespräche noch nicht gerühmt hatten.
1 Zeitung aus Wittenberg p. 127.

Unruhen in Wittenberg.
rirten Einſicht drangen auch ſie nun zunächſt auf Abände-
rungen des kirchlichen Ritus. Vor allem verwarfen ſie,
weil das Sacrament ohne den Glauben keinen Sinn habe,
die Taufe der Unmündigen, die ja des Glaubens nicht fä-
hig ſeyen. Aber noch viel weiter giengen ihre Gedanken.
Sie hielten dafür, daß der Welt eine totale Verwüſtung,
vielleicht durch die Türken, bevorſtehe. Kein Prieſter werde
leben bleiben, ſelbſt keiner von denen die ſich jetzt verhei-
rathen, überhaupt kein Unfrommer: aber nach dieſer bluti-
gen Reinigung werde das Reich Gottes eintreten, Eine
Taufe, Ein Glauben ſeyn. 1 Natürlich brachten Lehren die-
ſer Art in Zwickau ähnliche Bewegungen und Unruhen her-
vor, wie die carlſtadtiſchen in Wittenberg; doch nahmen ſie
dort eine andre Wendung. In Zwickau ſtand den Neue-
rern nicht eine leicht aufzuregende akademiſche Jugend zur
Seite: Rath und Pfarrer behielten die Oberhand und die
Neuerer mußten die Stadt verlaſſen. Aber was ihnen zu
Hauſe nicht gelungen, hofften ſie anderwärts um ſo voll-
ſtändiger durchzuſetzen. Die einen begaben ſich nach Prag,
um hier wo möglich die alte taboritiſche Geſinnung wieder
zu beleben: was ihnen denn freilich mißlang. Die andern,
auf die es uns ankommt, erſchienen in Wittenberg, wo ſie
in der allgemeinen Aufregung der Geiſter, die nach einem
Unbekannten Neuen trachteten, in dem Ubergewicht der Ge-
meine und Jugend über den Rath der Stadt und den Se-
nat der Univerſität einen für ihre Saat vortrefflich vor-
bereiteten Boden fanden.


533: aus der man zugleich ſieht, daß die Leute ein Halbjahr fruͤher
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1 Zeitung aus Wittenberg p. 127.
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[21/0031] Unruhen in Wittenberg. rirten Einſicht drangen auch ſie nun zunächſt auf Abände- rungen des kirchlichen Ritus. Vor allem verwarfen ſie, weil das Sacrament ohne den Glauben keinen Sinn habe, die Taufe der Unmündigen, die ja des Glaubens nicht fä- hig ſeyen. Aber noch viel weiter giengen ihre Gedanken. Sie hielten dafür, daß der Welt eine totale Verwüſtung, vielleicht durch die Türken, bevorſtehe. Kein Prieſter werde leben bleiben, ſelbſt keiner von denen die ſich jetzt verhei- rathen, überhaupt kein Unfrommer: aber nach dieſer bluti- gen Reinigung werde das Reich Gottes eintreten, Eine Taufe, Ein Glauben ſeyn. 1 Natürlich brachten Lehren die- ſer Art in Zwickau ähnliche Bewegungen und Unruhen her- vor, wie die carlſtadtiſchen in Wittenberg; doch nahmen ſie dort eine andre Wendung. In Zwickau ſtand den Neue- rern nicht eine leicht aufzuregende akademiſche Jugend zur Seite: Rath und Pfarrer behielten die Oberhand und die Neuerer mußten die Stadt verlaſſen. Aber was ihnen zu Hauſe nicht gelungen, hofften ſie anderwärts um ſo voll- ſtändiger durchzuſetzen. Die einen begaben ſich nach Prag, um hier wo möglich die alte taboritiſche Geſinnung wieder zu beleben: was ihnen denn freilich mißlang. Die andern, auf die es uns ankommt, erſchienen in Wittenberg, wo ſie in der allgemeinen Aufregung der Geiſter, die nach einem Unbekannten Neuen trachteten, in dem Ubergewicht der Ge- meine und Jugend über den Rath der Stadt und den Se- nat der Univerſität einen für ihre Saat vortrefflich vor- bereiteten Boden fanden. 2 1 Zeitung aus Wittenberg p. 127. 2 533: aus der man zugleich ſieht, daß die Leute ein Halbjahr fruͤher ſich der goͤttlichen Geſpraͤche noch nicht geruͤhmt hatten.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/31>, abgerufen am 26.04.2024.