Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Erster Theil: Naturkunde der Liebe. Leipzig, 1798.wollte, die Herzensgeliebte des Herzogs, um den Unterschied zu fühlen! Aber selbst in der Leidenschaft unterscheide ich den Zustand der dauernden Ausfüllung und Entzückung, worin wir, ohne weiter etwas zu wünschen oder zu fürchten, nur genießen, und den Zustand der dauernden Verzweiflung, worin wir, ohne weitere Hoffnung leiden, - von dem Zustande des hoffenden Strebens und des Gelingens, der mit weitern Wünschen und mit Besorgnissen des Verlustes verknüpft ist. Dieser letzte Zustand ist eigentlich Leidenschaft: hier erhöht die Mischung des Gefühls der Unentbehrlichkeit mit den Gefühlen der Wollust oder Wonne unsere Begierden: hier ist Bedürfniß mit Genuß, Qual mit Vergnügen verbunden. So wie ich also hier Leidenschaft betrachte, ist sie ein anhaltender Zustand des Strebens und des Ueberwindens; des Hoffens auf eine künftige Befriedigung, der Besorgniß, daß das Erlangte verloren gehen möge, und des Sehnens nach einer fortschreitenden Ausbildung des Genusses. Sechstes Kapitel. Anwendung dieses Begriffs der Leidenschaft auf die Liebe, besonders auf die Geschlechtsliebe. Die Leidenschaft ist liebend, wenn der Begriff einer wonnevollen Bestrebung nach der Ueberzeugung von dem Glück eines andern Menschen außer uns auf sie zutrifft. Dieß geschieht unstreitig dann, wenn wir ganz aus unserm Selbst heraus in den andern überzugehen wünschen, und unser Schicksal durch das seinige bestimmen wollte, die Herzensgeliebte des Herzogs, um den Unterschied zu fühlen! Aber selbst in der Leidenschaft unterscheide ich den Zustand der dauernden Ausfüllung und Entzückung, worin wir, ohne weiter etwas zu wünschen oder zu fürchten, nur genießen, und den Zustand der dauernden Verzweiflung, worin wir, ohne weitere Hoffnung leiden, – von dem Zustande des hoffenden Strebens und des Gelingens, der mit weitern Wünschen und mit Besorgnissen des Verlustes verknüpft ist. Dieser letzte Zustand ist eigentlich Leidenschaft: hier erhöht die Mischung des Gefühls der Unentbehrlichkeit mit den Gefühlen der Wollust oder Wonne unsere Begierden: hier ist Bedürfniß mit Genuß, Qual mit Vergnügen verbunden. So wie ich also hier Leidenschaft betrachte, ist sie ein anhaltender Zustand des Strebens und des Ueberwindens; des Hoffens auf eine künftige Befriedigung, der Besorgniß, daß das Erlangte verloren gehen möge, und des Sehnens nach einer fortschreitenden Ausbildung des Genusses. Sechstes Kapitel. Anwendung dieses Begriffs der Leidenschaft auf die Liebe, besonders auf die Geschlechtsliebe. Die Leidenschaft ist liebend, wenn der Begriff einer wonnevollen Bestrebung nach der Ueberzeugung von dem Glück eines andern Menschen außer uns auf sie zutrifft. Dieß geschieht unstreitig dann, wenn wir ganz aus unserm Selbst heraus in den andern überzugehen wünschen, und unser Schicksal durch das seinige bestimmen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0251" n="251"/> wollte, die Herzensgeliebte des Herzogs, um den Unterschied zu fühlen!</p> <p>Aber selbst in der Leidenschaft unterscheide ich den Zustand der dauernden Ausfüllung und Entzückung, worin wir, ohne weiter etwas zu wünschen oder zu fürchten, nur genießen, und den Zustand der dauernden Verzweiflung, worin wir, ohne weitere Hoffnung leiden, – von dem Zustande des hoffenden Strebens und des Gelingens, der mit weitern Wünschen und mit Besorgnissen des Verlustes verknüpft ist. Dieser letzte Zustand ist eigentlich Leidenschaft: hier erhöht die Mischung des Gefühls der Unentbehrlichkeit mit den Gefühlen der Wollust oder Wonne unsere Begierden: hier ist Bedürfniß mit Genuß, Qual mit Vergnügen verbunden.</p> <p>So wie ich also hier Leidenschaft betrachte, ist sie ein anhaltender Zustand des Strebens und des Ueberwindens; des Hoffens auf eine künftige Befriedigung, der Besorgniß, daß das Erlangte verloren gehen möge, und des Sehnens nach einer fortschreitenden Ausbildung des Genusses.</p> </div> <div n="2"> <head>Sechstes Kapitel.<lb/></head> <argument> <p>Anwendung dieses Begriffs der Leidenschaft auf die Liebe, besonders auf die Geschlechtsliebe.<lb/></p> </argument> <p>Die Leidenschaft ist <hi rendition="#g">liebend</hi>, wenn der Begriff einer wonnevollen Bestrebung nach der Ueberzeugung von dem Glück eines andern Menschen außer uns auf sie zutrifft. Dieß geschieht unstreitig dann, wenn wir ganz aus unserm Selbst heraus in den andern überzugehen wünschen, und unser Schicksal durch das seinige bestimmen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [251/0251]
wollte, die Herzensgeliebte des Herzogs, um den Unterschied zu fühlen!
Aber selbst in der Leidenschaft unterscheide ich den Zustand der dauernden Ausfüllung und Entzückung, worin wir, ohne weiter etwas zu wünschen oder zu fürchten, nur genießen, und den Zustand der dauernden Verzweiflung, worin wir, ohne weitere Hoffnung leiden, – von dem Zustande des hoffenden Strebens und des Gelingens, der mit weitern Wünschen und mit Besorgnissen des Verlustes verknüpft ist. Dieser letzte Zustand ist eigentlich Leidenschaft: hier erhöht die Mischung des Gefühls der Unentbehrlichkeit mit den Gefühlen der Wollust oder Wonne unsere Begierden: hier ist Bedürfniß mit Genuß, Qual mit Vergnügen verbunden.
So wie ich also hier Leidenschaft betrachte, ist sie ein anhaltender Zustand des Strebens und des Ueberwindens; des Hoffens auf eine künftige Befriedigung, der Besorgniß, daß das Erlangte verloren gehen möge, und des Sehnens nach einer fortschreitenden Ausbildung des Genusses.
Sechstes Kapitel.
Anwendung dieses Begriffs der Leidenschaft auf die Liebe, besonders auf die Geschlechtsliebe.
Die Leidenschaft ist liebend, wenn der Begriff einer wonnevollen Bestrebung nach der Ueberzeugung von dem Glück eines andern Menschen außer uns auf sie zutrifft. Dieß geschieht unstreitig dann, wenn wir ganz aus unserm Selbst heraus in den andern überzugehen wünschen, und unser Schicksal durch das seinige bestimmen
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Zitationshilfe: | Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Erster Theil: Naturkunde der Liebe. Leipzig, 1798, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus01_1798/251>, abgerufen am 24.02.2025. |