Es ist mir zuweilen ein wahres Bedürfniß, einen Tag ganz allein zu Haus zuzubringen, und dann großentheils in einer Art von träumerischem Hinbrü- ten zu durchleben, wo ich so lange Vergangnes und Neues und alle Affekte durchlaufe, bis durch die Mi- schung so vieles Bunten eine Nebelfarbe sich über Alles breitet, und die Dissonanzen des Lebens sich am Ende in eine sanfte, objektlose Rührung auflösen. Recht unterstützt wird man hier in solcher Stimmung durch die, mir sonst sehr unausstehlichen Drehorgeln, die Tag und Nacht in allen Straßen ertönen. Auch sie leyern im wilden Wirbel hundert Melodieen un- tereinander, bis alle Musik sich in ein träumerisches Ohrenklingen verliert.
Amüsanter ist dagegen ein anderes hiesiges Straßen- spiel, eine ächte National-Comödie, die eine etwas
Sechster Brief.
London, den 25ſten Nov. 1826.
Geliebteſte!
Es iſt mir zuweilen ein wahres Bedürfniß, einen Tag ganz allein zu Haus zuzubringen, und dann großentheils in einer Art von träumeriſchem Hinbrü- ten zu durchleben, wo ich ſo lange Vergangnes und Neues und alle Affekte durchlaufe, bis durch die Mi- ſchung ſo vieles Bunten eine Nebelfarbe ſich über Alles breitet, und die Diſſonanzen des Lebens ſich am Ende in eine ſanfte, objektloſe Rührung auflöſen. Recht unterſtützt wird man hier in ſolcher Stimmung durch die, mir ſonſt ſehr unausſtehlichen Drehorgeln, die Tag und Nacht in allen Straßen ertönen. Auch ſie leyern im wilden Wirbel hundert Melodieen un- tereinander, bis alle Muſik ſich in ein träumeriſches Ohrenklingen verliert.
Amüſanter iſt dagegen ein anderes hieſiges Straßen- ſpiel, eine ächte National-Comödie, die eine etwas
<TEI><text><body><pbfacs="#f0176"n="[136]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Sechster Brief</hi>.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><opener><dateline><hirendition="#et">London, den 25ſten Nov. 1826.</hi></dateline><lb/><salute>Geliebteſte!</salute></opener><lb/><p>Es iſt mir zuweilen ein wahres Bedürfniß, einen<lb/>
Tag ganz allein zu Haus zuzubringen, und dann<lb/>
großentheils in einer Art von träumeriſchem Hinbrü-<lb/>
ten zu durchleben, wo ich ſo lange Vergangnes und<lb/>
Neues und alle Affekte durchlaufe, bis durch die Mi-<lb/>ſchung ſo vieles Bunten <hirendition="#g">eine</hi> Nebelfarbe ſich über<lb/>
Alles breitet, und die Diſſonanzen des Lebens ſich<lb/>
am Ende in eine ſanfte, objektloſe Rührung auflöſen.<lb/>
Recht unterſtützt wird man hier in ſolcher Stimmung<lb/>
durch die, mir ſonſt ſehr unausſtehlichen Drehorgeln,<lb/>
die Tag und Nacht in allen Straßen ertönen. Auch<lb/>ſie leyern im wilden Wirbel hundert Melodieen un-<lb/>
tereinander, bis alle Muſik ſich in ein träumeriſches<lb/>
Ohrenklingen verliert.</p><lb/><p>Amüſanter iſt dagegen ein anderes hieſiges Straßen-<lb/>ſpiel, eine ächte National-Comödie, die eine etwas<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[136]/0176]
Sechster Brief.
London, den 25ſten Nov. 1826.
Geliebteſte!
Es iſt mir zuweilen ein wahres Bedürfniß, einen
Tag ganz allein zu Haus zuzubringen, und dann
großentheils in einer Art von träumeriſchem Hinbrü-
ten zu durchleben, wo ich ſo lange Vergangnes und
Neues und alle Affekte durchlaufe, bis durch die Mi-
ſchung ſo vieles Bunten eine Nebelfarbe ſich über
Alles breitet, und die Diſſonanzen des Lebens ſich
am Ende in eine ſanfte, objektloſe Rührung auflöſen.
Recht unterſtützt wird man hier in ſolcher Stimmung
durch die, mir ſonſt ſehr unausſtehlichen Drehorgeln,
die Tag und Nacht in allen Straßen ertönen. Auch
ſie leyern im wilden Wirbel hundert Melodieen un-
tereinander, bis alle Muſik ſich in ein träumeriſches
Ohrenklingen verliert.
Amüſanter iſt dagegen ein anderes hieſiges Straßen-
ſpiel, eine ächte National-Comödie, die eine etwas
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. [136]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/176>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.