Du nanntest mich manchmal kindlich, und kein Lob- spruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel sey Dank, liebe Julie, Kinder werden wir Beide bleiben, so lange wir athmen, und wenn auch schon hundert Runzeln uns bedeckten. Kinder aber spielen gern, sind zuwei- len ein wenig inconsequent und haschen dabei immer nach Freude. C'est la l'essentiel. So mußt Du mich beurtheilen, und nie viel mehr von mir erwar- ten. Wirf mir also auch nicht vor, daß ich ohne Zweck umherirre -- du lieber Himmel! hat doch Parry mit seinem Zweck dreimal vergebens nach dem Nordpol segeln müssen, ohne seinen Zweck zu erreichen, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena zu verkümmern, weil er seinen Zweck früher zu gut erreicht hatte! Und was ist überhaupt der Zweck der Menschen? Keiner kann's eigentlich recht genau ab-
Vier und vierzigſter Brief.
Holyhead, den 15ten December 1828.
Theure und Treue!
Du nannteſt mich manchmal kindlich, und kein Lob- ſpruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel ſey Dank, liebe Julie, Kinder werden wir Beide bleiben, ſo lange wir athmen, und wenn auch ſchon hundert Runzeln uns bedeckten. Kinder aber ſpielen gern, ſind zuwei- len ein wenig inconſequent und haſchen dabei immer nach Freude. C’est là l’essentiel. So mußt Du mich beurtheilen, und nie viel mehr von mir erwar- ten. Wirf mir alſo auch nicht vor, daß ich ohne Zweck umherirre — du lieber Himmel! hat doch Parry mit ſeinem Zweck dreimal vergebens nach dem Nordpol ſegeln müſſen, ohne ſeinen Zweck zu erreichen, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena zu verkümmern, weil er ſeinen Zweck früher zu gut erreicht hatte! Und was iſt überhaupt der Zweck der Menſchen? Keiner kann’s eigentlich recht genau ab-
<TEI><text><body><pbfacs="#f0257"n="[235]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="1"><head><hirendition="#b">Vier und vierzigſter Brief.</hi></head><lb/><divn="2"><opener><dateline><hirendition="#et">Holyhead, den 15<hirendition="#sup">ten</hi> December 1828.</hi></dateline><lb/><salute>Theure und Treue!</salute></opener><lb/><p>Du nannteſt mich manchmal kindlich, und kein Lob-<lb/>ſpruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel ſey Dank,<lb/>
liebe <hirendition="#aq">Julie,</hi> Kinder werden wir Beide bleiben, ſo lange<lb/>
wir athmen, und wenn auch ſchon hundert Runzeln<lb/>
uns bedeckten. Kinder aber ſpielen gern, ſind zuwei-<lb/>
len ein wenig inconſequent und haſchen dabei immer<lb/>
nach Freude. <hirendition="#aq">C’est là l’essentiel.</hi> So mußt Du<lb/>
mich beurtheilen, und nie viel mehr von mir erwar-<lb/>
ten. Wirf mir alſo auch nicht vor, daß ich ohne<lb/>
Zweck umherirre — du lieber Himmel! hat doch<lb/>
Parry <hirendition="#g">mit</hi>ſeinem Zweck dreimal vergebens nach dem<lb/>
Nordpol ſegeln müſſen, <hirendition="#g">ohne ſeinen Zweck zu<lb/>
erreichen</hi>, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang<lb/>
Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena<lb/>
zu verkümmern, weil er ſeinen Zweck früher zu gut<lb/>
erreicht hatte! Und was iſt überhaupt der Zweck der<lb/>
Menſchen? Keiner kann’s eigentlich recht genau ab-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[235]/0257]
Vier und vierzigſter Brief.
Holyhead, den 15ten December 1828.
Theure und Treue!
Du nannteſt mich manchmal kindlich, und kein Lob-
ſpruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel ſey Dank,
liebe Julie, Kinder werden wir Beide bleiben, ſo lange
wir athmen, und wenn auch ſchon hundert Runzeln
uns bedeckten. Kinder aber ſpielen gern, ſind zuwei-
len ein wenig inconſequent und haſchen dabei immer
nach Freude. C’est là l’essentiel. So mußt Du
mich beurtheilen, und nie viel mehr von mir erwar-
ten. Wirf mir alſo auch nicht vor, daß ich ohne
Zweck umherirre — du lieber Himmel! hat doch
Parry mit ſeinem Zweck dreimal vergebens nach dem
Nordpol ſegeln müſſen, ohne ſeinen Zweck zu
erreichen, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang
Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena
zu verkümmern, weil er ſeinen Zweck früher zu gut
erreicht hatte! Und was iſt überhaupt der Zweck der
Menſchen? Keiner kann’s eigentlich recht genau ab-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. [235]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/257>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.