Platen, August von: Gedichte. Stuttgart, 1828.XXXI. Wenn ich nur minutenlange deines Blicks genossen hätte, Wünscht' ich, daß die Liebesleiter keine höh're Sprossen hätte! Denn was müßte Der empfinden, der an deinen Lippen athmend Diese schönen, keuschen Formen jugendlich umschlossen hätte? Freudetrunken dir am Busen würd' ich brünstig weinen lernen, Wenn ich nicht, doch nicht aus Freude, Thränen schon vergossen hätte; Wenn ich nun erkühnt mich hätte, leise dir die Hand zu drücken, Gar zu gerne möcht' ich wissen, ob es dich verdrossen hätte? Wünschen nicht, wir sollen wagen; denn wie leicht ist's, blos zu sagen: Fliegen würd' ich, wenn ich Flügel, schwimmen, wenn ich Flossen hätte! Sittenzwang und Formelwesen hätten längst die Welt verkümmert, Wenn sich nicht Gesang zuweilen durch die Welt ergossen hätte. XXXI. Wenn ich nur minutenlange deines Blicks genoſſen haͤtte, Wuͤnſcht' ich, daß die Liebesleiter keine hoͤh're Sproſſen haͤtte! Denn was muͤßte Der empfinden, der an deinen Lippen athmend Dieſe ſchoͤnen, keuſchen Formen jugendlich umſchloſſen haͤtte? Freudetrunken dir am Buſen wuͤrd' ich bruͤnſtig weinen lernen, Wenn ich nicht, doch nicht aus Freude, Thraͤnen ſchon vergoſſen haͤtte; Wenn ich nun erkuͤhnt mich haͤtte, leiſe dir die Hand zu druͤcken, Gar zu gerne moͤcht' ich wiſſen, ob es dich verdroſſen haͤtte? Wuͤnſchen nicht, wir ſollen wagen; denn wie leicht iſt's, blos zu ſagen: Fliegen wuͤrd' ich, wenn ich Fluͤgel, ſchwimmen, wenn ich Floſſen haͤtte! Sittenzwang und Formelweſen haͤtten laͤngſt die Welt verkuͤmmert, Wenn ſich nicht Geſang zuweilen durch die Welt ergoſſen haͤtte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0159" n="149"/> </div> <div n="3"> <head> <hi rendition="#aq">XXXI.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <l><hi rendition="#in">W</hi>enn ich nur minutenlange deines Blicks genoſſen<lb/><hi rendition="#et">haͤtte,</hi></l><lb/> <l>Wuͤnſcht' ich, daß die Liebesleiter keine hoͤh're Sproſſen<lb/><hi rendition="#et">haͤtte!</hi></l><lb/> <l>Denn was muͤßte Der empfinden, der an deinen Lippen<lb/><hi rendition="#et">athmend</hi></l><lb/> <l>Dieſe ſchoͤnen, keuſchen Formen jugendlich umſchloſſen<lb/><hi rendition="#et">haͤtte?</hi></l><lb/> <l>Freudetrunken dir am Buſen wuͤrd' ich bruͤnſtig weinen<lb/><hi rendition="#et">lernen,</hi></l><lb/> <l>Wenn ich nicht, doch nicht aus Freude, Thraͤnen ſchon<lb/><hi rendition="#et">vergoſſen haͤtte;</hi></l><lb/> <l>Wenn ich nun erkuͤhnt mich haͤtte, leiſe dir die Hand<lb/><hi rendition="#et">zu druͤcken,</hi></l><lb/> <l>Gar zu gerne moͤcht' ich wiſſen, ob es dich verdroſſen<lb/><hi rendition="#et">haͤtte?</hi></l><lb/> <l>Wuͤnſchen nicht, wir ſollen wagen; denn wie leicht iſt's,<lb/><hi rendition="#et">blos zu ſagen:</hi></l><lb/> <l>Fliegen wuͤrd' ich, wenn ich Fluͤgel, ſchwimmen, wenn<lb/><hi rendition="#et">ich Floſſen haͤtte!</hi></l><lb/> <l>Sittenzwang und Formelweſen haͤtten laͤngſt die Welt<lb/><hi rendition="#et">verkuͤmmert,</hi></l><lb/> <l>Wenn ſich nicht Geſang zuweilen durch die Welt ergoſſen<lb/><hi rendition="#et">haͤtte.</hi></l><lb/> </lg> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [149/0159]
XXXI.
Wenn ich nur minutenlange deines Blicks genoſſen
haͤtte,
Wuͤnſcht' ich, daß die Liebesleiter keine hoͤh're Sproſſen
haͤtte!
Denn was muͤßte Der empfinden, der an deinen Lippen
athmend
Dieſe ſchoͤnen, keuſchen Formen jugendlich umſchloſſen
haͤtte?
Freudetrunken dir am Buſen wuͤrd' ich bruͤnſtig weinen
lernen,
Wenn ich nicht, doch nicht aus Freude, Thraͤnen ſchon
vergoſſen haͤtte;
Wenn ich nun erkuͤhnt mich haͤtte, leiſe dir die Hand
zu druͤcken,
Gar zu gerne moͤcht' ich wiſſen, ob es dich verdroſſen
haͤtte?
Wuͤnſchen nicht, wir ſollen wagen; denn wie leicht iſt's,
blos zu ſagen:
Fliegen wuͤrd' ich, wenn ich Fluͤgel, ſchwimmen, wenn
ich Floſſen haͤtte!
Sittenzwang und Formelweſen haͤtten laͤngſt die Welt
verkuͤmmert,
Wenn ſich nicht Geſang zuweilen durch die Welt ergoſſen
haͤtte.
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