Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

men Israeliten ab der Reüti, und heilig versprach
es dem Pfarrer getreulich zu überbringen. Der
Vogt aber freute sich in seinem Herzen, daß hof-
fentlich der Pfarrer dem wüsten Ketzer das Wochen-
brod jezt nicht mehr geben würde; worinn er sich
aber gröblich irrte, denn der Pfarrer hatte ihm
bis jezt das Brod wahrlich nicht um seiner Tugend,
sondern um seines Hungers willen gegeben.


§. 27.
Fleiß und Arbeitsamkeit, ohne ein dank-
bares und mitleidiges Herz.

Vom Marx weg gieng der Vogt nun endlich
zum letsten. Dieses war der Kienast, ein kränk-
licher Mann. Er gieng zwar erst gegen die fünf-
zig; aber Armuth und Sorgen hatten ihn gar
abgeschwächt, und heute war er besonders in einem
erschrecklichen Kummer.

Seine älteste Tochter hatte gestern in der Stadt
Dienste genommen, und zeigte dann heute dem Va-
ter den Dingpfenning, worüber der arme Mann
gewaltig erschrocken war.

Seine Frau, die noch kindete, war eben jezt nä-
hig, und das Susanneli war unter den Kindern das

einzige,

men Iſraeliten ab der Reuͤti, und heilig verſprach
es dem Pfarrer getreulich zu uͤberbringen. Der
Vogt aber freute ſich in ſeinem Herzen, daß hof-
fentlich der Pfarrer dem wuͤſten Ketzer das Wochen-
brod jezt nicht mehr geben wuͤrde; worinn er ſich
aber groͤblich irrte, denn der Pfarrer hatte ihm
bis jezt das Brod wahrlich nicht um ſeiner Tugend,
ſondern um ſeines Hungers willen gegeben.


§. 27.
Fleiß und Arbeitſamkeit, ohne ein dank-
bares und mitleidiges Herz.

Vom Marx weg gieng der Vogt nun endlich
zum letſten. Dieſes war der Kienaſt, ein kraͤnk-
licher Mann. Er gieng zwar erſt gegen die fuͤnf-
zig; aber Armuth und Sorgen hatten ihn gar
abgeſchwaͤcht, und heute war er beſonders in einem
erſchrecklichen Kummer.

Seine aͤlteſte Tochter hatte geſtern in der Stadt
Dienſte genommen, und zeigte dann heute dem Va-
ter den Dingpfenning, woruͤber der arme Mann
gewaltig erſchrocken war.

Seine Frau, die noch kindete, war eben jezt naͤ-
hig, und das Suſanneli war unter den Kindern das

einzige,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0163" n="138"/>
men I&#x017F;raeliten ab der Reu&#x0364;ti, und heilig ver&#x017F;prach<lb/>
es dem Pfarrer getreulich zu u&#x0364;berbringen. Der<lb/>
Vogt aber freute &#x017F;ich in &#x017F;einem Herzen, daß hof-<lb/>
fentlich der Pfarrer dem wu&#x0364;&#x017F;ten Ketzer das Wochen-<lb/>
brod jezt nicht mehr geben wu&#x0364;rde; worinn er &#x017F;ich<lb/>
aber gro&#x0364;blich irrte, denn der Pfarrer hatte ihm<lb/>
bis jezt das Brod wahrlich nicht um &#x017F;einer Tugend,<lb/>
&#x017F;ondern um &#x017F;eines Hungers willen gegeben.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>§. 27.<lb/><hi rendition="#b">Fleiß und Arbeit&#x017F;amkeit, ohne ein dank-<lb/>
bares und mitleidiges Herz.</hi></head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">V</hi>om Marx weg gieng der Vogt nun endlich<lb/>
zum let&#x017F;ten. Die&#x017F;es war der Kiena&#x017F;t, ein kra&#x0364;nk-<lb/>
licher Mann. Er gieng zwar er&#x017F;t gegen die fu&#x0364;nf-<lb/>
zig; aber Armuth und Sorgen hatten ihn gar<lb/>
abge&#x017F;chwa&#x0364;cht, und heute war er be&#x017F;onders in einem<lb/>
er&#x017F;chrecklichen Kummer.</p><lb/>
          <p>Seine a&#x0364;lte&#x017F;te Tochter hatte ge&#x017F;tern in der Stadt<lb/>
Dien&#x017F;te genommen, und zeigte dann heute dem Va-<lb/>
ter den Dingpfenning, woru&#x0364;ber der arme Mann<lb/>
gewaltig er&#x017F;chrocken war.</p><lb/>
          <p>Seine Frau, die noch kindete, war eben jezt na&#x0364;-<lb/>
hig, und das Su&#x017F;anneli war unter den Kindern das<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">einzige,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0163] men Iſraeliten ab der Reuͤti, und heilig verſprach es dem Pfarrer getreulich zu uͤberbringen. Der Vogt aber freute ſich in ſeinem Herzen, daß hof- fentlich der Pfarrer dem wuͤſten Ketzer das Wochen- brod jezt nicht mehr geben wuͤrde; worinn er ſich aber groͤblich irrte, denn der Pfarrer hatte ihm bis jezt das Brod wahrlich nicht um ſeiner Tugend, ſondern um ſeines Hungers willen gegeben. §. 27. Fleiß und Arbeitſamkeit, ohne ein dank- bares und mitleidiges Herz. Vom Marx weg gieng der Vogt nun endlich zum letſten. Dieſes war der Kienaſt, ein kraͤnk- licher Mann. Er gieng zwar erſt gegen die fuͤnf- zig; aber Armuth und Sorgen hatten ihn gar abgeſchwaͤcht, und heute war er beſonders in einem erſchrecklichen Kummer. Seine aͤlteſte Tochter hatte geſtern in der Stadt Dienſte genommen, und zeigte dann heute dem Va- ter den Dingpfenning, woruͤber der arme Mann gewaltig erſchrocken war. Seine Frau, die noch kindete, war eben jezt naͤ- hig, und das Suſanneli war unter den Kindern das einzige,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/163
Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/163>, abgerufen am 21.11.2024.