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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Islam.
gedankenschwache Masse der Gläubigen an dem Buchstaben hängen.
Neben dieser Lehre konnte auch niemals in der islamitischen
Gesellschaft ein Priesterstand zur Macht gelangen, da er nichts
zu binden und zu lösen hatte. Obendrein standen die Chalifen
und ihre Nachfolger immer an der Spitze der Gläubigen.

Ausser dem Qoran hat die Sunna oder das Herkommen und
die Rechtsgewohnheit, wo sie nicht der Offenbarung widerspricht,
volle Kraft und enthält Rechtssätze in bürgerlichen oder peinlichen
Sachen, sowie Nahrungs- und Kleidungsvorschriften. Neben ihr
geniesst auch die Nachricht oder Hadyth, das heisst die Ueber-
lieferung von Aussprüchen des Propheten, wenn sie durch gute
Zeugen bis auf Mohammed zurückreicht, rechtsverbindliche Kraft1).

In Persien wurden beide Gesetzesquellen nicht anerkannt und
daher trat eine Spaltung unter den Gläubigen in Anhänger der
Sunna oder Sunniten, und in Abtrünnige oder Schyiten ein.

Kurz nach der Stiftung überfluthete der Islam Aegypten und
Nordafrika, überschritt an der Schwelle des 8. Jahrhunderts die
Meerenge von Gibraltar und erhielt sich bis zum Falle von Gra-
nada 1492 im westlichen Europa. In dem nämlichen Jahrhundert,
wo er aus Spanien nach Afrika zurückgedrängt wurde, hatte er
Südeuropa an der östlichen Halbinsel siegreich betreten und im
Jahre 1453 errang er die Herrschaft über die Meerengen die un-
sern Welttheil von Kleinasien scheiden.

Am Beginn des 8. Jahrhunderts drangen die Araber erobernd
in das Indusgebiet, aber ihre Fürstenthümer Multan und Mansura
fielen bald vom Chalifate ab. Arabische Gemeinden gab es
in allen Küstenstädten an der Malabarseite Ostindiens, aber vor-
läufig genoss der Islam dort nur Duldung. Erst um das Jahr
1000 n. Chr. unter den Ghazneviden fasste er festen Fuss
in Indien2) und unter Baber, dem Stifter des grossmongolischen
Thrones, fiel die Hauptmacht der Halbinsel an mohammedanische
Fürsten. Auf Sumatra gelangte die Lehre des Propheten erst im
Reiche Atschin 1206 zur Herrschaft und in dem Reiche Malaka
kurz nach der Stiftung im Jahre 1253, während sie auf Java erst
nach dem Sturze des Staates Madschapahit im Jahre 1478 den
Buddhismus verdrängte. Nach Celebes gelangte sie 1512, doch

1) Sprenger, Mohammad. Bd. 3. p. LXXVII sq.
2) Reinaud, Geographie d'Aboulfeda. Introduction, p. CCCXLIII. sq.

Der Islâm.
gedankenschwache Masse der Gläubigen an dem Buchstaben hängen.
Neben dieser Lehre konnte auch niemals in der islamitischen
Gesellschaft ein Priesterstand zur Macht gelangen, da er nichts
zu binden und zu lösen hatte. Obendrein standen die Chalifen
und ihre Nachfolger immer an der Spitze der Gläubigen.

Ausser dem Qorân hat die Sunna oder das Herkommen und
die Rechtsgewohnheit, wo sie nicht der Offenbarung widerspricht,
volle Kraft und enthält Rechtssätze in bürgerlichen oder peinlichen
Sachen, sowie Nahrungs- und Kleidungsvorschriften. Neben ihr
geniesst auch die Nachricht oder Hadyth, das heisst die Ueber-
lieferung von Aussprüchen des Propheten, wenn sie durch gute
Zeugen bis auf Mohammed zurückreicht, rechtsverbindliche Kraft1).

In Persien wurden beide Gesetzesquellen nicht anerkannt und
daher trat eine Spaltung unter den Gläubigen in Anhänger der
Sunna oder Sunniten, und in Abtrünnige oder Schyi͑ten ein.

Kurz nach der Stiftung überfluthete der Islam Aegypten und
Nordafrika, überschritt an der Schwelle des 8. Jahrhunderts die
Meerenge von Gibraltar und erhielt sich bis zum Falle von Gra-
nada 1492 im westlichen Europa. In dem nämlichen Jahrhundert,
wo er aus Spanien nach Afrika zurückgedrängt wurde, hatte er
Südeuropa an der östlichen Halbinsel siegreich betreten und im
Jahre 1453 errang er die Herrschaft über die Meerengen die un-
sern Welttheil von Kleinasien scheiden.

Am Beginn des 8. Jahrhunderts drangen die Araber erobernd
in das Indusgebiet, aber ihre Fürstenthümer Multan und Mansura
fielen bald vom Chalifate ab. Arabische Gemeinden gab es
in allen Küstenstädten an der Malabarseite Ostindiens, aber vor-
läufig genoss der Islâm dort nur Duldung. Erst um das Jahr
1000 n. Chr. unter den Ghazneviden fasste er festen Fuss
in Indien2) und unter Baber, dem Stifter des grossmongolischen
Thrones, fiel die Hauptmacht der Halbinsel an mohammedanische
Fürsten. Auf Sumatra gelangte die Lehre des Propheten erst im
Reiche Atschin 1206 zur Herrschaft und in dem Reiche Malaka
kurz nach der Stiftung im Jahre 1253, während sie auf Java erst
nach dem Sturze des Staates Madschapahit im Jahre 1478 den
Buddhismus verdrängte. Nach Celebes gelangte sie 1512, doch

1) Sprenger, Mohammad. Bd. 3. p. LXXVII sq.
2) Reinaud, Géographie d’Aboulféda. Introduction, p. CCCXLIII. sq.
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[322/0340] Der Islâm. gedankenschwache Masse der Gläubigen an dem Buchstaben hängen. Neben dieser Lehre konnte auch niemals in der islamitischen Gesellschaft ein Priesterstand zur Macht gelangen, da er nichts zu binden und zu lösen hatte. Obendrein standen die Chalifen und ihre Nachfolger immer an der Spitze der Gläubigen. Ausser dem Qorân hat die Sunna oder das Herkommen und die Rechtsgewohnheit, wo sie nicht der Offenbarung widerspricht, volle Kraft und enthält Rechtssätze in bürgerlichen oder peinlichen Sachen, sowie Nahrungs- und Kleidungsvorschriften. Neben ihr geniesst auch die Nachricht oder Hadyth, das heisst die Ueber- lieferung von Aussprüchen des Propheten, wenn sie durch gute Zeugen bis auf Mohammed zurückreicht, rechtsverbindliche Kraft 1). In Persien wurden beide Gesetzesquellen nicht anerkannt und daher trat eine Spaltung unter den Gläubigen in Anhänger der Sunna oder Sunniten, und in Abtrünnige oder Schyi͑ten ein. Kurz nach der Stiftung überfluthete der Islam Aegypten und Nordafrika, überschritt an der Schwelle des 8. Jahrhunderts die Meerenge von Gibraltar und erhielt sich bis zum Falle von Gra- nada 1492 im westlichen Europa. In dem nämlichen Jahrhundert, wo er aus Spanien nach Afrika zurückgedrängt wurde, hatte er Südeuropa an der östlichen Halbinsel siegreich betreten und im Jahre 1453 errang er die Herrschaft über die Meerengen die un- sern Welttheil von Kleinasien scheiden. Am Beginn des 8. Jahrhunderts drangen die Araber erobernd in das Indusgebiet, aber ihre Fürstenthümer Multan und Mansura fielen bald vom Chalifate ab. Arabische Gemeinden gab es in allen Küstenstädten an der Malabarseite Ostindiens, aber vor- läufig genoss der Islâm dort nur Duldung. Erst um das Jahr 1000 n. Chr. unter den Ghazneviden fasste er festen Fuss in Indien 2) und unter Baber, dem Stifter des grossmongolischen Thrones, fiel die Hauptmacht der Halbinsel an mohammedanische Fürsten. Auf Sumatra gelangte die Lehre des Propheten erst im Reiche Atschin 1206 zur Herrschaft und in dem Reiche Malaka kurz nach der Stiftung im Jahre 1253, während sie auf Java erst nach dem Sturze des Staates Madschapahit im Jahre 1478 den Buddhismus verdrängte. Nach Celebes gelangte sie 1512, doch 1) Sprenger, Mohammad. Bd. 3. p. LXXVII sq. 2) Reinaud, Géographie d’Aboulféda. Introduction, p. CCCXLIII. sq.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/340>, abgerufen am 27.04.2024.