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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die christlichen Lehren.
fertigt sich durch die Schranken des menschlichen Denkvermögens.
Einen Geist uns vorzustellen sind wir unfähig, denn was wir so
zu nennen belieben, gleicht immer einem denkenden Geschöpf,
wie wir selbst sind, gebunden an die Arbeit eines Organismus.
So lange wir Menschen bleiben, werden wir immer gezwungen,
das Göttliche in Menschenform uns vorzustellen, doch geschieht dies
in den Evangelien mit einer Einschränkung des Sprachgebrauches.
Darf Gott als Vater angerufen werden, so sollen wir doch den
also geheiligten Vaternamen nur auf Gott allein anwenden 1).

Eine Lehre aber ist es vorzüglich, die im Christenthum zuerst
und einzig nur mit ihm auftritt, nämlich die Annahme einer gü-
tigen Vorsehung. Es ist, um mit Leibnitz zu reden, der Plan der
möglichst besten Schöpfung bis auf das Kleinste durchdacht, bis
zur Zahl der Haare auf dem Menschenhaupte und bis auf das
Dasein der schwächsten Geschöpfe 2). So wie die Erkenntniss
einer solchen Vorsehung feststeht, wird die gefährlichste Verirrung
des Menschen, nämlich aller Schamanismus beseitigt. Ueberwindet
auch vielleicht das menschliche Nachdenken die gröberen Ver-
suche, durch Spruch und Zauber sich eine vorgespiegelte Macht
über den Lauf der Naturvorgänge anzumassen, so bleibt doch
noch viel länger das Vertrauen in die Wirksamkeit der sinnbild-
lichen Handlungen, der Opfer, der Fasten, Bussübungen und Ge-
bete zurück. Die indischen Brahmanen gelangten, wie wir sahen,
durch scharfsinnigen Selbstbetrug bis zu dem Wahne, dass sie,
als Inhaber solcher Mittel, göttliche Naturen geworden seien. War
in der Gefangenschaft bei den Hebräern das Gebet zuerst zur
Bedeutung und Macht gelangt 3), so musste doch schon Zakharja 4)
gegen das erzwungene Fasten und Trauern warnen, durch welches
man sich einbildete, die Rathschlüsse Gottes zu ändern. Der
strenge Christ darf bei der Annahme einer gütigen Vorsehung
keinen Eingriff Gottes in den gesetzlichen Ablauf der Naturvor-
gänge begehren. Unser Religionsstifter hat im Gegentheil be-
stimmt verboten, nichts irdisches erflehen zu wollen, da, bevor

1) Matth. XXIII, 9. Kai patera me kalesete umon epi tes ges; eis
gar estin o pater umon, o en tois ouranois.
2) Matth. X, 29--30.
3) Ewald, israelit. Geschichte. Bd. 4. S. 32.
4) cap. VII, 5--6.

Die christlichen Lehren.
fertigt sich durch die Schranken des menschlichen Denkvermögens.
Einen Geist uns vorzustellen sind wir unfähig, denn was wir so
zu nennen belieben, gleicht immer einem denkenden Geschöpf,
wie wir selbst sind, gebunden an die Arbeit eines Organismus.
So lange wir Menschen bleiben, werden wir immer gezwungen,
das Göttliche in Menschenform uns vorzustellen, doch geschieht dies
in den Evangelien mit einer Einschränkung des Sprachgebrauches.
Darf Gott als Vater angerufen werden, so sollen wir doch den
also geheiligten Vaternamen nur auf Gott allein anwenden 1).

Eine Lehre aber ist es vorzüglich, die im Christenthum zuerst
und einzig nur mit ihm auftritt, nämlich die Annahme einer gü-
tigen Vorsehung. Es ist, um mit Leibnitz zu reden, der Plan der
möglichst besten Schöpfung bis auf das Kleinste durchdacht, bis
zur Zahl der Haare auf dem Menschenhaupte und bis auf das
Dasein der schwächsten Geschöpfe 2). So wie die Erkenntniss
einer solchen Vorsehung feststeht, wird die gefährlichste Verirrung
des Menschen, nämlich aller Schamanismus beseitigt. Ueberwindet
auch vielleicht das menschliche Nachdenken die gröberen Ver-
suche, durch Spruch und Zauber sich eine vorgespiegelte Macht
über den Lauf der Naturvorgänge anzumassen, so bleibt doch
noch viel länger das Vertrauen in die Wirksamkeit der sinnbild-
lichen Handlungen, der Opfer, der Fasten, Bussübungen und Ge-
bete zurück. Die indischen Brahmanen gelangten, wie wir sahen,
durch scharfsinnigen Selbstbetrug bis zu dem Wahne, dass sie,
als Inhaber solcher Mittel, göttliche Naturen geworden seien. War
in der Gefangenschaft bei den Hebräern das Gebet zuerst zur
Bedeutung und Macht gelangt 3), so musste doch schon Zakharja 4)
gegen das erzwungene Fasten und Trauern warnen, durch welches
man sich einbildete, die Rathschlüsse Gottes zu ändern. Der
strenge Christ darf bei der Annahme einer gütigen Vorsehung
keinen Eingriff Gottes in den gesetzlichen Ablauf der Naturvor-
gänge begehren. Unser Religionsstifter hat im Gegentheil be-
stimmt verboten, nichts irdisches erflehen zu wollen, da, bevor

1) Matth. XXIII, 9. Καὶ πατέρα μὴ καλέσητε ὑμῶν ἐπὶ τῆς γῆς· εἷς
γάρ ἐστιν ὁ πατὴρ ὑμῶν, ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς.
2) Matth. X, 29—30.
3) Ewald, israelit. Geschichte. Bd. 4. S. 32.
4) cap. VII, 5—6.
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[311/0329] Die christlichen Lehren. fertigt sich durch die Schranken des menschlichen Denkvermögens. Einen Geist uns vorzustellen sind wir unfähig, denn was wir so zu nennen belieben, gleicht immer einem denkenden Geschöpf, wie wir selbst sind, gebunden an die Arbeit eines Organismus. So lange wir Menschen bleiben, werden wir immer gezwungen, das Göttliche in Menschenform uns vorzustellen, doch geschieht dies in den Evangelien mit einer Einschränkung des Sprachgebrauches. Darf Gott als Vater angerufen werden, so sollen wir doch den also geheiligten Vaternamen nur auf Gott allein anwenden 1). Eine Lehre aber ist es vorzüglich, die im Christenthum zuerst und einzig nur mit ihm auftritt, nämlich die Annahme einer gü- tigen Vorsehung. Es ist, um mit Leibnitz zu reden, der Plan der möglichst besten Schöpfung bis auf das Kleinste durchdacht, bis zur Zahl der Haare auf dem Menschenhaupte und bis auf das Dasein der schwächsten Geschöpfe 2). So wie die Erkenntniss einer solchen Vorsehung feststeht, wird die gefährlichste Verirrung des Menschen, nämlich aller Schamanismus beseitigt. Ueberwindet auch vielleicht das menschliche Nachdenken die gröberen Ver- suche, durch Spruch und Zauber sich eine vorgespiegelte Macht über den Lauf der Naturvorgänge anzumassen, so bleibt doch noch viel länger das Vertrauen in die Wirksamkeit der sinnbild- lichen Handlungen, der Opfer, der Fasten, Bussübungen und Ge- bete zurück. Die indischen Brahmanen gelangten, wie wir sahen, durch scharfsinnigen Selbstbetrug bis zu dem Wahne, dass sie, als Inhaber solcher Mittel, göttliche Naturen geworden seien. War in der Gefangenschaft bei den Hebräern das Gebet zuerst zur Bedeutung und Macht gelangt 3), so musste doch schon Zakharja 4) gegen das erzwungene Fasten und Trauern warnen, durch welches man sich einbildete, die Rathschlüsse Gottes zu ändern. Der strenge Christ darf bei der Annahme einer gütigen Vorsehung keinen Eingriff Gottes in den gesetzlichen Ablauf der Naturvor- gänge begehren. Unser Religionsstifter hat im Gegentheil be- stimmt verboten, nichts irdisches erflehen zu wollen, da, bevor 1) Matth. XXIII, 9. Καὶ πατέρα μὴ καλέσητε ὑμῶν ἐπὶ τῆς γῆς· εἷς γάρ ἐστιν ὁ πατὴρ ὑμῶν, ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς. 2) Matth. X, 29—30. 3) Ewald, israelit. Geschichte. Bd. 4. S. 32. 4) cap. VII, 5—6.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/329>, abgerufen am 26.04.2024.