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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Schamanismus.
wältigt als in Indien, denn an der Spitze aller Schamanen, me-
thodisch geschult, verfeinert durch Gedankentiefe, gestützt auf
tausendjährige Uebung, stehen die Brahmanen. Ihr höchstes
Zaubermittel ist der Saft der Soma-Pflanze (Sarcostemma viminale),
mit dem sie ihre Opfer kräftigen. Gleich den Mganga oder süd-
afrikanischen Regendoctoren bringen sie das ersehnte nasse Wetter
herbei, denn erst, wenn der Donnergott Indra durch ihre heiligen
Riten gestärkt worden ist, vermag er die Wolken zu spalten und
ihnen den befruchtenden Niederschlag zu entreissen. Dem Opfer
selbst wurde eine schöpferische Kraft beigelegt, denn in ihm sollte
der Brahma allgegenwärtig sein 1). Nach ihren Lehren verleihen
auch Bussübungen, wenn sie in ungemessene Zeiten fortgesetzt
werden, wie die des Wischwamitra, dem Dulder zuletzt so hohe
Kraft, dass die epischen Götter von ihm eine Zerstörung des
Himmels und der Erde fürchten 2). Wenn aber nach der scha-
manistischen Hypothese durch Gebete und Hymnen, wenn vor
Allem durch Opfer, begleitet von wirksamen sinnbildlichen Hand-
lungen, die Götter zu den erwünschten Leistungen gezwungen
werden können, so musste ein folgerichtiges Denken zu dem
Satze führen, dass Bussübungen, Gebete und Opfer über den
Göttern stehen. So gelangten die Indier zu dem Begriffe Brahma,
der geistigen Macht nämlich, welche in den ritualistischen Geheim-
mitteln ruhte und die über den Göttern schwebte. Die Brah-
manen selbst, als die Wissenden, denen allein der geheime Sinn
und die Wirkungskraft der Bräuche und Sprüche bekannt war,
mussten sich selbst schliesslich übermenschliche Eigenschaften bei-
messen und sich zu fleischgewordenen Göttern erheben. Nach
ihren Lehren hing alles Glück von der richtigen Vollziehung der
Opfer ab. Dieser Kunst verdankten sie ihren Rang und ihren
Lebensgenuss. Die Opfer selbst, anfangs einfach, wurden immer
verwickelter. Bald erforderten sie mehr als einen Tag, dann
Wochen, Monate und Jahre und zugleich stieg die Zahl der dienst-
thuenden Priester durch beständige Vervierfachung bis auf vier-
undsechzig, wie man dies alles bei Martin Haug finden wird, der

1) Martin Haug, in der Beilage zur Allgem. Zeitung 1873. No. 156.
S. 2390.
2) Martin Haug, Brahma und die Brahmanen. München 1871. S. 12.
S. 21.

Der Schamanismus.
wältigt als in Indien, denn an der Spitze aller Schamanen, me-
thodisch geschult, verfeinert durch Gedankentiefe, gestützt auf
tausendjährige Uebung, stehen die Brahmanen. Ihr höchstes
Zaubermittel ist der Saft der Soma-Pflanze (Sarcostemma viminale),
mit dem sie ihre Opfer kräftigen. Gleich den Mganga oder süd-
afrikanischen Regendoctoren bringen sie das ersehnte nasse Wetter
herbei, denn erst, wenn der Donnergott Indra durch ihre heiligen
Riten gestärkt worden ist, vermag er die Wolken zu spalten und
ihnen den befruchtenden Niederschlag zu entreissen. Dem Opfer
selbst wurde eine schöpferische Kraft beigelegt, denn in ihm sollte
der Brâhma allgegenwärtig sein 1). Nach ihren Lehren verleihen
auch Bussübungen, wenn sie in ungemessene Zeiten fortgesetzt
werden, wie die des Wischwâmitra, dem Dulder zuletzt so hohe
Kraft, dass die epischen Götter von ihm eine Zerstörung des
Himmels und der Erde fürchten 2). Wenn aber nach der scha-
manistischen Hypothese durch Gebete und Hymnen, wenn vor
Allem durch Opfer, begleitet von wirksamen sinnbildlichen Hand-
lungen, die Götter zu den erwünschten Leistungen gezwungen
werden können, so musste ein folgerichtiges Denken zu dem
Satze führen, dass Bussübungen, Gebete und Opfer über den
Göttern stehen. So gelangten die Indier zu dem Begriffe Brahma,
der geistigen Macht nämlich, welche in den ritualistischen Geheim-
mitteln ruhte und die über den Göttern schwebte. Die Brah-
manen selbst, als die Wissenden, denen allein der geheime Sinn
und die Wirkungskraft der Bräuche und Sprüche bekannt war,
mussten sich selbst schliesslich übermenschliche Eigenschaften bei-
messen und sich zu fleischgewordenen Göttern erheben. Nach
ihren Lehren hing alles Glück von der richtigen Vollziehung der
Opfer ab. Dieser Kunst verdankten sie ihren Rang und ihren
Lebensgenuss. Die Opfer selbst, anfangs einfach, wurden immer
verwickelter. Bald erforderten sie mehr als einen Tag, dann
Wochen, Monate und Jahre und zugleich stieg die Zahl der dienst-
thuenden Priester durch beständige Vervierfachung bis auf vier-
undsechzig, wie man dies alles bei Martin Haug finden wird, der

1) Martin Haug, in der Beilage zur Allgem. Zeitung 1873. No. 156.
S. 2390.
2) Martin Haug, Brahma und die Brahmanen. München 1871. S. 12.
S. 21.
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[282/0300] Der Schamanismus. wältigt als in Indien, denn an der Spitze aller Schamanen, me- thodisch geschult, verfeinert durch Gedankentiefe, gestützt auf tausendjährige Uebung, stehen die Brahmanen. Ihr höchstes Zaubermittel ist der Saft der Soma-Pflanze (Sarcostemma viminale), mit dem sie ihre Opfer kräftigen. Gleich den Mganga oder süd- afrikanischen Regendoctoren bringen sie das ersehnte nasse Wetter herbei, denn erst, wenn der Donnergott Indra durch ihre heiligen Riten gestärkt worden ist, vermag er die Wolken zu spalten und ihnen den befruchtenden Niederschlag zu entreissen. Dem Opfer selbst wurde eine schöpferische Kraft beigelegt, denn in ihm sollte der Brâhma allgegenwärtig sein 1). Nach ihren Lehren verleihen auch Bussübungen, wenn sie in ungemessene Zeiten fortgesetzt werden, wie die des Wischwâmitra, dem Dulder zuletzt so hohe Kraft, dass die epischen Götter von ihm eine Zerstörung des Himmels und der Erde fürchten 2). Wenn aber nach der scha- manistischen Hypothese durch Gebete und Hymnen, wenn vor Allem durch Opfer, begleitet von wirksamen sinnbildlichen Hand- lungen, die Götter zu den erwünschten Leistungen gezwungen werden können, so musste ein folgerichtiges Denken zu dem Satze führen, dass Bussübungen, Gebete und Opfer über den Göttern stehen. So gelangten die Indier zu dem Begriffe Brahma, der geistigen Macht nämlich, welche in den ritualistischen Geheim- mitteln ruhte und die über den Göttern schwebte. Die Brah- manen selbst, als die Wissenden, denen allein der geheime Sinn und die Wirkungskraft der Bräuche und Sprüche bekannt war, mussten sich selbst schliesslich übermenschliche Eigenschaften bei- messen und sich zu fleischgewordenen Göttern erheben. Nach ihren Lehren hing alles Glück von der richtigen Vollziehung der Opfer ab. Dieser Kunst verdankten sie ihren Rang und ihren Lebensgenuss. Die Opfer selbst, anfangs einfach, wurden immer verwickelter. Bald erforderten sie mehr als einen Tag, dann Wochen, Monate und Jahre und zugleich stieg die Zahl der dienst- thuenden Priester durch beständige Vervierfachung bis auf vier- undsechzig, wie man dies alles bei Martin Haug finden wird, der 1) Martin Haug, in der Beilage zur Allgem. Zeitung 1873. No. 156. S. 2390. 2) Martin Haug, Brahma und die Brahmanen. München 1871. S. 12. S. 21.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/300>, abgerufen am 27.04.2024.