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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
suchungen sich einlassen. Nur bei ackerbautreibenden Völkern,
wenn auch nicht bei allen, finden wir eine Verehrung der Natur-
kräfte. Ihnen waren aber die Vorgänge im Luftkreise die wich-
tigsten, weil von ihnen Ueberfluss oder Mangel abhing. Die Ver-
götterung der Kraft, also von etwas sinnlich nicht mehr Wahrnehm-
baren, konnte sich nur innerhalb einer Priesterkaste oder als Geheim-
lehre rein erhalten, für die Uneingeweihten aber, welche die sinnige
Räthselsprache des Naturdienstes nicht verstanden, und die Allegorien
als buchstäbliche Wirklichkeiten auffassten, musste das Unsichtbare
Fleisch und Blut annehmen. Aus einem Eigenschaftsworte, welches
der Kraft beigelegt wurde, entstand ein Eigenname des Göttlichen,
aus dem Namen entsprang wieder die Vorstellung eines Geschöpfes,
welches sogleich männlich oder weiblich gedacht wurde, je nach
dem grammatischen Geschlechte der üblich gewordenen Benennung,
und die einmal erregte Phantasie träumte nun den Götterroman
weiter. Es zeigt sich dabei sogleich, dass der Typus der Sprache
bei diesen Schöpfungen thätig eingriff. Sprachen also, die ein
grammatisches Geschlecht unterscheiden, wie die des arischen,
semitischen, und hamitischen Völkerkreises, enthalten grosse Ver-
lockungen zur Mythenbildung. Nur darf man die Leistungen der
Sprache selbst nicht überschätzen, denn wir finden Mythen von
Göttern und Göttinnen bei Völkern mit geschlechtsloser Grammatik,
wie bei den Polynesiern und bei den Bewohnern Mittel-Amerikas.
So ist auch der geistvolle Bleek1) in den Irrthum gerathen, Ahnen-
dienst nur bei Völkern zu suchen, die sich der Präfixpronominal-
Sprache bedienen, während er sich doch bei den Chinesen findet,
deren Sprache alle grammatischen Formen entbehrt.

Wie aber die Sprache den Mythus gleichsam automatisch aus-
bildet, hat Delbrück mit grossem Scharfsinn an dem Heroenmärchen
Hippolyt und Phädra gezeigt, dem ursprünglich nichts zu Grunde
lag, als die Erscheinungen am Abendhimmel vom ersten Sichtbar-
werden der Sichel bis zum Vollwerden der Mondscheibe. Es sei
uns daher erlaubt, die Beweisführung kurz zu wiederholen. Hip-
polyt ist, wie auch ein schwacher Hellenist es errathen kann, die
Bezeichnung für jemand, der mit gelösten oder ungeschirrten
Rossen fährt. In der Welt der Dichtung thut dies allein der Son-
nengott. Als Phädra dagegen, als die leuchtende oder glän-

1) Ueber den Ursprung der Sprache. Weimar 1868. p. XVI.

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
suchungen sich einlassen. Nur bei ackerbautreibenden Völkern,
wenn auch nicht bei allen, finden wir eine Verehrung der Natur-
kräfte. Ihnen waren aber die Vorgänge im Luftkreise die wich-
tigsten, weil von ihnen Ueberfluss oder Mangel abhing. Die Ver-
götterung der Kraft, also von etwas sinnlich nicht mehr Wahrnehm-
baren, konnte sich nur innerhalb einer Priesterkaste oder als Geheim-
lehre rein erhalten, für die Uneingeweihten aber, welche die sinnige
Räthselsprache des Naturdienstes nicht verstanden, und die Allegorien
als buchstäbliche Wirklichkeiten auffassten, musste das Unsichtbare
Fleisch und Blut annehmen. Aus einem Eigenschaftsworte, welches
der Kraft beigelegt wurde, entstand ein Eigenname des Göttlichen,
aus dem Namen entsprang wieder die Vorstellung eines Geschöpfes,
welches sogleich männlich oder weiblich gedacht wurde, je nach
dem grammatischen Geschlechte der üblich gewordenen Benennung,
und die einmal erregte Phantasie träumte nun den Götterroman
weiter. Es zeigt sich dabei sogleich, dass der Typus der Sprache
bei diesen Schöpfungen thätig eingriff. Sprachen also, die ein
grammatisches Geschlecht unterscheiden, wie die des arischen,
semitischen, und hamitischen Völkerkreises, enthalten grosse Ver-
lockungen zur Mythenbildung. Nur darf man die Leistungen der
Sprache selbst nicht überschätzen, denn wir finden Mythen von
Göttern und Göttinnen bei Völkern mit geschlechtsloser Grammatik,
wie bei den Polynesiern und bei den Bewohnern Mittel-Amerikas.
So ist auch der geistvolle Bleek1) in den Irrthum gerathen, Ahnen-
dienst nur bei Völkern zu suchen, die sich der Präfixpronominal-
Sprache bedienen, während er sich doch bei den Chinesen findet,
deren Sprache alle grammatischen Formen entbehrt.

Wie aber die Sprache den Mythus gleichsam automatisch aus-
bildet, hat Delbrück mit grossem Scharfsinn an dem Heroenmärchen
Hippolyt und Phädra gezeigt, dem ursprünglich nichts zu Grunde
lag, als die Erscheinungen am Abendhimmel vom ersten Sichtbar-
werden der Sichel bis zum Vollwerden der Mondscheibe. Es sei
uns daher erlaubt, die Beweisführung kurz zu wiederholen. Hip-
polyt ist, wie auch ein schwacher Hellenist es errathen kann, die
Bezeichnung für jemand, der mit gelösten oder ungeschirrten
Rossen fährt. In der Welt der Dichtung thut dies allein der Son-
nengott. Als Phädra dagegen, als die leuchtende oder glän-

1) Ueber den Ursprung der Sprache. Weimar 1868. p. XVI.
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[266/0284] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. suchungen sich einlassen. Nur bei ackerbautreibenden Völkern, wenn auch nicht bei allen, finden wir eine Verehrung der Natur- kräfte. Ihnen waren aber die Vorgänge im Luftkreise die wich- tigsten, weil von ihnen Ueberfluss oder Mangel abhing. Die Ver- götterung der Kraft, also von etwas sinnlich nicht mehr Wahrnehm- baren, konnte sich nur innerhalb einer Priesterkaste oder als Geheim- lehre rein erhalten, für die Uneingeweihten aber, welche die sinnige Räthselsprache des Naturdienstes nicht verstanden, und die Allegorien als buchstäbliche Wirklichkeiten auffassten, musste das Unsichtbare Fleisch und Blut annehmen. Aus einem Eigenschaftsworte, welches der Kraft beigelegt wurde, entstand ein Eigenname des Göttlichen, aus dem Namen entsprang wieder die Vorstellung eines Geschöpfes, welches sogleich männlich oder weiblich gedacht wurde, je nach dem grammatischen Geschlechte der üblich gewordenen Benennung, und die einmal erregte Phantasie träumte nun den Götterroman weiter. Es zeigt sich dabei sogleich, dass der Typus der Sprache bei diesen Schöpfungen thätig eingriff. Sprachen also, die ein grammatisches Geschlecht unterscheiden, wie die des arischen, semitischen, und hamitischen Völkerkreises, enthalten grosse Ver- lockungen zur Mythenbildung. Nur darf man die Leistungen der Sprache selbst nicht überschätzen, denn wir finden Mythen von Göttern und Göttinnen bei Völkern mit geschlechtsloser Grammatik, wie bei den Polynesiern und bei den Bewohnern Mittel-Amerikas. So ist auch der geistvolle Bleek 1) in den Irrthum gerathen, Ahnen- dienst nur bei Völkern zu suchen, die sich der Präfixpronominal- Sprache bedienen, während er sich doch bei den Chinesen findet, deren Sprache alle grammatischen Formen entbehrt. Wie aber die Sprache den Mythus gleichsam automatisch aus- bildet, hat Delbrück mit grossem Scharfsinn an dem Heroenmärchen Hippolyt und Phädra gezeigt, dem ursprünglich nichts zu Grunde lag, als die Erscheinungen am Abendhimmel vom ersten Sichtbar- werden der Sichel bis zum Vollwerden der Mondscheibe. Es sei uns daher erlaubt, die Beweisführung kurz zu wiederholen. Hip- polyt ist, wie auch ein schwacher Hellenist es errathen kann, die Bezeichnung für jemand, der mit gelösten oder ungeschirrten Rossen fährt. In der Welt der Dichtung thut dies allein der Son- nengott. Als Phädra dagegen, als die leuchtende oder glän- 1) Ueber den Ursprung der Sprache. Weimar 1868. p. XVI.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/284>, abgerufen am 26.04.2024.