Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
daher beiderseitig kein Blut floss, so erwies sich gerade das Rache-
gesetz als wohlthätige Ursache, denn wäre es auch nur zu Ver-
wundungen gekommen, so hätte sich daraus eine Kette von Ge-
waltthaten bis auf ferne Geschlechter vererbt. Wir erkennen da-
raus, dass die Blutrache zum Lebensschutz ersonnen worden ist.
Wer daher unter Arabern seinen eigenen Verwandten umbringt,
verfällt keinem Rächer, da er sich selbst geschädigt hat, und ebenso
wenig zieht die Tödtung eines Vogelfreien oder aus dem Stamm-
verband Gestossenen irgendwelche Folgen nach sich1). Wo die
Rache zur Pflicht wird, trifft Verachtung denjenigen, der sie nicht
vollzieht2). Eben weil die Vergeltung zur Ehrensache erhoben
wird, stösst aber die Beilegung der Blutfehden auf grosse Schwierig-
keiten. Am leichtesten gelingt sie, wenn die Zahl der Tödtungen
und Verwundungen auf beiden Seiten eine gleiche Höhe erreicht
hat. Der Rest muss dagegen durch Geldeswerth gesühnt werden.
Die Aneze Beduinen fordern für das Blut eines Freien 50 weibliche
Kamele, ein Reitkamel, eine Stute, einen schwarzen Sklaven, einen
Panzer und eine Flinte; andere Stämme verlangen Geld im Werthe
von 50 Pfd. Sterl., noch andere nur die Hälfte3).

Mildern sich die Sitten, so wird die Sühnung durch Geldes-
werth zur Gewohnheit und es entwickelt sich daraus der Brauch
des Wer- oder was dasselbe sagen will des Leutgeldes. Wo
solche Bussen auferlegt werden, hat vormals überall Blutrache ge-
herrscht. In Guinea wurde zu Bosmans4) Zeiten, also am Beginn
des 18. Jahrhunderts der Todtschlag jedes Freien mit schwerem
Gelde gesühnt, welches den Verwandten zufiel. Wenig verträglich
mit unserm Rechtsgefühl ist es, dass in Siam auf die Tödtung eines
Greises eine geringere Summe, als auf die Tödtung von rüstigen
Männern gesetzt wird5). Unsere Vorfahren entrichteten das Wer-

1) v. Maltzan, Sittenschilderungen aus Südarabien. Globus 1872. Febr.
Bd. XXI. S. 123.
2) Bei den Kuki, einem südasiatischen Stamm galten die Angehörigen des
von einem Tiger Zerrissenen so lange entehrt, bis sie einen Tiger getödtet
hatten. Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 282.
3) Burckhardt, Notes on the Bedouins. London 1830. p. 87.
4) Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. Utrecht 1704. p. 159.
5) Brossard de Corbigny, in Revue maritime et coloniale. tom. XXXIII.
Aoaut 1872. p. 73.

Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
daher beiderseitig kein Blut floss, so erwies sich gerade das Rache-
gesetz als wohlthätige Ursache, denn wäre es auch nur zu Ver-
wundungen gekommen, so hätte sich daraus eine Kette von Ge-
waltthaten bis auf ferne Geschlechter vererbt. Wir erkennen da-
raus, dass die Blutrache zum Lebensschutz ersonnen worden ist.
Wer daher unter Arabern seinen eigenen Verwandten umbringt,
verfällt keinem Rächer, da er sich selbst geschädigt hat, und ebenso
wenig zieht die Tödtung eines Vogelfreien oder aus dem Stamm-
verband Gestossenen irgendwelche Folgen nach sich1). Wo die
Rache zur Pflicht wird, trifft Verachtung denjenigen, der sie nicht
vollzieht2). Eben weil die Vergeltung zur Ehrensache erhoben
wird, stösst aber die Beilegung der Blutfehden auf grosse Schwierig-
keiten. Am leichtesten gelingt sie, wenn die Zahl der Tödtungen
und Verwundungen auf beiden Seiten eine gleiche Höhe erreicht
hat. Der Rest muss dagegen durch Geldeswerth gesühnt werden.
Die Aneze Beduinen fordern für das Blut eines Freien 50 weibliche
Kamele, ein Reitkamel, eine Stute, einen schwarzen Sklaven, einen
Panzer und eine Flinte; andere Stämme verlangen Geld im Werthe
von 50 Pfd. Sterl., noch andere nur die Hälfte3).

Mildern sich die Sitten, so wird die Sühnung durch Geldes-
werth zur Gewohnheit und es entwickelt sich daraus der Brauch
des Wer- oder was dasselbe sagen will des Leutgeldes. Wo
solche Bussen auferlegt werden, hat vormals überall Blutrache ge-
herrscht. In Guinea wurde zu Bosmans4) Zeiten, also am Beginn
des 18. Jahrhunderts der Todtschlag jedes Freien mit schwerem
Gelde gesühnt, welches den Verwandten zufiel. Wenig verträglich
mit unserm Rechtsgefühl ist es, dass in Siam auf die Tödtung eines
Greises eine geringere Summe, als auf die Tödtung von rüstigen
Männern gesetzt wird5). Unsere Vorfahren entrichteten das Wer-

1) v. Maltzan, Sittenschilderungen aus Südarabien. Globus 1872. Febr.
Bd. XXI. S. 123.
2) Bei den Kuki, einem südasiatischen Stamm galten die Angehörigen des
von einem Tiger Zerrissenen so lange entehrt, bis sie einen Tiger getödtet
hatten. Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 282.
3) Burckhardt, Notes on the Bedouins. London 1830. p. 87.
4) Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. Utrecht 1704. p. 159.
5) Brossard de Corbigny, in Revue maritime et coloniale. tom. XXXIII.
Août 1872. p. 73.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0267" n="249"/><fw place="top" type="header">Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.</fw><lb/>
daher beiderseitig kein Blut floss, so erwies sich gerade das Rache-<lb/>
gesetz als wohlthätige Ursache, denn wäre es auch nur zu Ver-<lb/>
wundungen gekommen, so hätte sich daraus eine Kette von Ge-<lb/>
waltthaten bis auf ferne Geschlechter vererbt. Wir erkennen da-<lb/>
raus, dass die Blutrache zum Lebensschutz ersonnen worden ist.<lb/>
Wer daher unter Arabern seinen eigenen Verwandten umbringt,<lb/>
verfällt keinem Rächer, da er sich selbst geschädigt hat, und ebenso<lb/>
wenig zieht die Tödtung eines Vogelfreien oder aus dem Stamm-<lb/>
verband Gestossenen irgendwelche Folgen nach sich<note place="foot" n="1)">v. <hi rendition="#g">Maltzan</hi>, Sittenschilderungen aus Südarabien. Globus 1872. Febr.<lb/>
Bd. XXI. S. 123.</note>. Wo die<lb/>
Rache zur Pflicht wird, trifft Verachtung denjenigen, der sie nicht<lb/>
vollzieht<note place="foot" n="2)">Bei den Kuki, einem südasiatischen Stamm galten die Angehörigen des<lb/>
von einem Tiger Zerrissenen so lange entehrt, bis sie einen Tiger getödtet<lb/>
hatten. <hi rendition="#g">Tylor</hi>, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 282.</note>. Eben weil die Vergeltung zur Ehrensache erhoben<lb/>
wird, stösst aber die Beilegung der Blutfehden auf grosse Schwierig-<lb/>
keiten. Am leichtesten gelingt sie, wenn die Zahl der Tödtungen<lb/>
und Verwundungen auf beiden Seiten eine gleiche Höhe erreicht<lb/>
hat. Der Rest muss dagegen durch Geldeswerth gesühnt werden.<lb/>
Die Aneze Beduinen fordern für das Blut eines Freien 50 weibliche<lb/>
Kamele, ein Reitkamel, eine Stute, einen schwarzen Sklaven, einen<lb/>
Panzer und eine Flinte; andere Stämme verlangen Geld im Werthe<lb/>
von 50 Pfd. Sterl., noch andere nur die Hälfte<note place="foot" n="3)"><hi rendition="#g">Burckhardt</hi>, Notes on the Bedouins. London 1830. p. 87.</note>.</p><lb/>
          <p>Mildern sich die Sitten, so wird die Sühnung durch Geldes-<lb/>
werth zur Gewohnheit und es entwickelt sich daraus der Brauch<lb/>
des Wer- oder was dasselbe sagen will des Leutgeldes. Wo<lb/>
solche Bussen auferlegt werden, hat vormals überall Blutrache ge-<lb/>
herrscht. In Guinea wurde zu Bosmans<note place="foot" n="4)">Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. Utrecht 1704. p. 159.</note> Zeiten, also am Beginn<lb/>
des 18. Jahrhunderts der Todtschlag jedes Freien mit schwerem<lb/>
Gelde gesühnt, welches den Verwandten zufiel. Wenig verträglich<lb/>
mit unserm Rechtsgefühl ist es, dass in Siam auf die Tödtung eines<lb/>
Greises eine geringere Summe, als auf die Tödtung von rüstigen<lb/>
Männern gesetzt wird<note place="foot" n="5)"><hi rendition="#g">Brossard de Corbigny</hi>, in Revue maritime et coloniale. tom. XXXIII.<lb/>
Août 1872. p. 73.</note>. Unsere Vorfahren entrichteten das Wer-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[249/0267] Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. daher beiderseitig kein Blut floss, so erwies sich gerade das Rache- gesetz als wohlthätige Ursache, denn wäre es auch nur zu Ver- wundungen gekommen, so hätte sich daraus eine Kette von Ge- waltthaten bis auf ferne Geschlechter vererbt. Wir erkennen da- raus, dass die Blutrache zum Lebensschutz ersonnen worden ist. Wer daher unter Arabern seinen eigenen Verwandten umbringt, verfällt keinem Rächer, da er sich selbst geschädigt hat, und ebenso wenig zieht die Tödtung eines Vogelfreien oder aus dem Stamm- verband Gestossenen irgendwelche Folgen nach sich 1). Wo die Rache zur Pflicht wird, trifft Verachtung denjenigen, der sie nicht vollzieht 2). Eben weil die Vergeltung zur Ehrensache erhoben wird, stösst aber die Beilegung der Blutfehden auf grosse Schwierig- keiten. Am leichtesten gelingt sie, wenn die Zahl der Tödtungen und Verwundungen auf beiden Seiten eine gleiche Höhe erreicht hat. Der Rest muss dagegen durch Geldeswerth gesühnt werden. Die Aneze Beduinen fordern für das Blut eines Freien 50 weibliche Kamele, ein Reitkamel, eine Stute, einen schwarzen Sklaven, einen Panzer und eine Flinte; andere Stämme verlangen Geld im Werthe von 50 Pfd. Sterl., noch andere nur die Hälfte 3). Mildern sich die Sitten, so wird die Sühnung durch Geldes- werth zur Gewohnheit und es entwickelt sich daraus der Brauch des Wer- oder was dasselbe sagen will des Leutgeldes. Wo solche Bussen auferlegt werden, hat vormals überall Blutrache ge- herrscht. In Guinea wurde zu Bosmans 4) Zeiten, also am Beginn des 18. Jahrhunderts der Todtschlag jedes Freien mit schwerem Gelde gesühnt, welches den Verwandten zufiel. Wenig verträglich mit unserm Rechtsgefühl ist es, dass in Siam auf die Tödtung eines Greises eine geringere Summe, als auf die Tödtung von rüstigen Männern gesetzt wird 5). Unsere Vorfahren entrichteten das Wer- 1) v. Maltzan, Sittenschilderungen aus Südarabien. Globus 1872. Febr. Bd. XXI. S. 123. 2) Bei den Kuki, einem südasiatischen Stamm galten die Angehörigen des von einem Tiger Zerrissenen so lange entehrt, bis sie einen Tiger getödtet hatten. Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 282. 3) Burckhardt, Notes on the Bedouins. London 1830. p. 87. 4) Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. Utrecht 1704. p. 159. 5) Brossard de Corbigny, in Revue maritime et coloniale. tom. XXXIII. Août 1872. p. 73.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/267
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/267>, abgerufen am 26.04.2024.